Sophie Scholl
zurück. Auf seinen Briefbogen, das Wort »Steuerberater« schwarz durchgestrichen, tippt er mit der Schreibmaschine, ohne Anrede und ohne Gruß: »Ich bin mir nicht bewusst, gehässige, hetzerische Äusserungen über leitende Persönlichkeiten gemacht zu haben. Richtig ist vielmehr, dass ich im Januar 1942 zu einer meiner Angestellten … bei einer vertraulichen, geistigen Aussprache unter vier Augen gesagt habe, ich halte Hitler für eine Gottesgeißel.« Im Büro des Präsidenten wurde nur vermerkt: »Zu den Akten«.
Wahrscheinlich am 26. November sind Hans Scholl und sein Freund Alexander Schmorell nach Stuttgart zu Eugen Grimminger gefahren. Sie haben ihm von den »Flugblättern der Weißen Rose« erzählt, von weitergehenden Plänen, und sie haben ihn um Geld gebeten. Ein gefährliches Manöver, denn wer von solchen Dingen hörte, war verpflichtet, sie anzuzeigen. Warum Grimminger? Die Spur führt zu Sophie Scholl mit der in Ulm offensichtlich über größere Widerstands-Projekte gesprochen wurde, ungeachtet der erfolglosen Reise nach Chemnitz. Denn für Projekte brauchte man Geld. Den Namen »Grimminger« kann nur Sophie Scholl in die Debatte geworfen haben. Sie allein hatte ihn genauer kennengelernt, während ihr Vater im Gefängnis saß und Grimminger zweimal die Woche nach Ulm kam, um im Steuerbüro von Robert Scholl die wichtigsten Arbeiten zu erledigen. Sie hatte ihn sogar mehrmals um Briefumschläge gebeten, die er bereitwillig von Stuttgart mitbrachte. Sophie Scholls Einschätzung, dass Eugen Grimminger Gegnern des Hitler-Staates gewogen war, erwies sich als richtig. Eugen Grimminger versprach seinen Besuchern finanzielle Hilfe; sie sollten wiederkommen.
In ihrem Brief vom 23. November erzählte Inge Scholl Otl Aicher, dass sie am Samstag zusammen mit Sophie in der Dämmerung in den Klosterwald gegangen war. Sie hätten sich auf einem Hochsitz niedergelassen, und Sophie habe auf ihrer Flöte Lieder gespielt: »Es war so wunderbar, dass ich am Schluss, als Sofie ihre Flöte in die Hülle steckte, bat, mit mir zu beten. Ich musste Scheu und Herzklopfen überwinden. Wir standen auf und Sofie sah mich an – so wie vor 12 Jahren als Kind, mit einem Schimmer im Gesicht, wie ein Kind drei Tage vor Weihnachten. So haben wir flüsternd das Vater Unser gesprochen …« Inge Scholl kommentiert gefühlvoll: »Sofie ist die, die Dir und mir vielleicht am nächsten steht. Ihre Liebe und Frömmigkeit sitzt allerdings tief und verborgen … Ach, Otl, was war dies für ein seliger Abend.«
Wie viel Inge Scholl ist in diesem Blick auf Sophie? Sophie Scholl hat viele Gesichter. Im Januar wird sie Fritz Hartnagel schreiben, sie fühle sich in Ulm, wo sie von bedingungsloser Liebe umgeben ist, wie ein »harmloses, ausgelassenes Kind«. Aber gewiss nicht durchgängig und nicht in den Stunden, wenn sie die Mächte, die sie von nun an tatkräftig herausfordern will, in ernüchternder Schrecklichkeit wahrnimmt. Sie macht sich nichts vor: Sie sind eine Bedrohung, vor der selbst eine Flucht in die tiefsten Tiefen der Meere keine Rettung bringt. Ihrer ältesten Schwester zeigt sie das andere Gesicht nicht. Fritz Hartnagel offenbart sie das Wechselbad der Empfindungen, die sie in diesen Wochen durchlebt.
Es sind Erschütterungen, die den Kern ihrer Person angreifen. Am Anfang ihres Briefes vom 18. November steht die flehentliche Aufforderung, füreinander zu beten, »denn wir sind arme Kinder, schwache Sünder«. Sophie Scholl erklärt mit einem Vergleich, warum sie Fritz Hartnagel nichts anderes schreiben kann: »… weil es erschreckend lächerlich ist, wenn ein Versinkender, anstatt um Hilfe zu rufen, beginnt, über irgendein wissenschaftliches, philosophisches oder theologisches Thema sich auszulassen, dieweil die unheimlichen Schlingarme der Wesen auf dem Meeresgrund ihm Beine und Arme umklammern und die Wogen über ihm zusammenschlagen; bloß deshalb, weil ich Angst in mir habe und nichts als Angst und mich nur nach dem sehne, der mir diese Angst abnimmt.« Sophie Scholl macht sich keine Illusionen; sie ist in Bezug auf das menschenverachtende Regime kein naives Kind. Ihre Angst hat sehr reale, nüchterne Gründe, und auch ihre Überzeugung, dass nur eine Zuflucht jenseits der irdischen Gewalten sie davon befreien kann.
Ist es verwunderlich, dass Sophie Scholl in dieser existenziellen Angst »Gott nicht einmal beim Gebet spürt«? Dass er ihr wieder ganz fern ist und sie »in ein Nichts« versinkt? Am entsetzlichsten
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