Sophie Scholl
ist für sie das Gefühl, gar nichts zu empfinden. Doch sie ist fest entschlossen, sich an Jesus Christus zu klammern, wie an ein Seil, das ihr Gott zugeworfen habe. Zum Schluss wendet sie sich noch einmal direkt an Fritz Hartnagel: »Ich bitte Dich: denke an mich in Deinem Gebet; ich will Dich auch nicht vergessen. Deine Sophie.« Die verzweifelte Leere, das Nicht-Spüren-Können Gottes, ist nur der eine Teil ihrer Geschichte. Am Anfang des Briefes freut sie sich, dass Fritz Hartnagel entschlossen ist, seine innere »Öde« zu überwinden, und wirft sich selbst dafür in die Waagschale: »… und wenn ich könnte, würde ich Dich immer mehr aufhetzen gegen die Gleichgültigkeit, die über Dich kommen könnte, und ich wünsche, die Gedanken an mich wären ein steter Stachel gegen sie.« Sophie Scholl ist am 18. November 1942 schonungslos bei sich selbst, ihren Ängsten und ihren persönlichen Hoffnungen auf einen gnädigen Gott. Doch darüber vergisst sie wiederum nicht die Welt, in der sie lebt, und diejenigen, die ihr nahe sind. Mit Fritz Hartnagel ermahnt sie auch sich selber, dass die äußeren Einflüsse ihr nicht gleichgültig sein dürfen. Hetzt auch sich selbst auf gegen die Gleichgültigkeit und verlangt auch von sich, etwas zu tun, damit es anders wird.
Indem sie Fritz Hartnagel ihre Ängste offenbart, befreit sie sich ein Stück weit davon. Die Waage neigt sich zugunsten der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Die Ängste werden bleiben, aber sie beherrschen die Einundzwanzigjährige nicht. Am Tag nach diesem Brief erhält der Vater das Berufsverbot. Noch am 19. November informiert sie Fritz Hartnagel darüber. Das hat konkrete Gründe, denn er hatte ihnen schon zuvor finanziell geholfen. Sophie Scholl kommt sich zwar »unverschämt« vor, doch nun korrigiert sie seine gut gemeinte Sparbuch-Idee: »… verstehst du, dass wir das Geld aus Deinen Händen und nicht aus den Händen Deiner Eltern, die in dieser Hinsicht von Dir so verschieden sind, annehmen möchten. Wir hatten damals ausgemacht, dass Du uns monatlich etwas überweisen lässt, anstatt Deiner Sparkasse.«
Auch was das Berufsverbot ihres Vaters betrifft, bleibt sie rational: »Das ist natürlich wieder ein Schlag. Wenn man nicht damit rechnen könnte, dass der Krieg innerhalb absehbarer Zeit zu Ende ist, wäre es sogar ein sehr schmerzlicher, denn mit einem Buchhaltergehalt (diesen Posten könnte mein Vater allenfalls noch ausfüllen) kann man keine so große Familie ernähren, Kinder studieren lassen und dazuhin noch eine teure Wohnung halten. Doch im Hinblick auf das Kriegsende möchte mein Vater wegen diesem Jahr, oder wie lange es noch gehen mag, die Wohnung nicht aufgeben.« Wenn der Vater diese politische Diagnose stellt, dann ist für Sophie Scholl darauf Verlass. Und es gab Fakten, die die Hoffnung untermauerten.
Wer ausländische Sender hörte, der wusste: Am 7. November waren die westlichen Allliierten erfolgreich an der Küste Nordafrikas gelandet. Das nächste Ziel einer Invasion würde Europa sein. Am 19. November trat im Osten die Rote Armee zur Gegenoffensive an. Die Wehrmacht, sonst schnell mit Erfolgsmeldungen bei der Hand, schwieg. Ach ja, Sophie Scholl hatte noch etwas vergessen. Der Brief an Fritz Hartnagel war schon mit herzlichen Grüßen abgeschlossen, da fügt sie hinzu: »Kannst Du mir nicht einmal einen Pack Briefumschläge beschaffen?« Eine seltsame Bitte an einen Soldaten, der sich mitten in der Schlacht um Stalingrad befindet. Aber die Sorgen um das Wohlergehen der Familie sind nicht ihre letzten Gedanken. Die Entschlossenheit, Widerstand zu leisten, ist immer präsent – ganz praktisch und konkret. Wer Flugblätter in großem Stil verschicken möchte, kann gar nicht genug Briefumschläge haben.
Am 28. November reist Sophie Scholl mit Adventskranz und Nahrungsmitteln zum Semesterbeginn nach München. Hans Scholl hat sich schon in der neuen gemeinsamen Wohnung in der Franz-Joseph-Straße 13 eingerichtet. Sie liegt im Garten hinter dem Haupthaus, nur wenige Minuten vom Atelier des Architekten Eickemeyer in der Leopoldstraße entfernt, wo im Sommer Hans Scholl abendliche Gesprächsrunden organisiert hatte. Am 29. schreibt Sophie Scholl an die Eltern, sie hätten »einen langen Abend Einzug gefeiert« und fühlten sich ganz daheim in der neuen Wohnung.
30. November – Sophie Scholl beantwortet einen Brief von Inge Scholl. Sie bereut, dass sie einen Streit beim Frühstück am Abfahrtstag nicht sofort bereinigt hat.
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