Sophie Scholl
müssen als ich.« Sophie Scholl vergisst nicht, dass im Vergleich zu ihr – Berufsverbot für den Vater, ein Jahr Zwangsaufenthalt in Arbeitsdienstlagern, Freund und jüngster Bruder an der Front in Russland – viele Menschen physisch und psychisch wesentlich mehr unter diesem System gelitten haben, gequält und ermordet worden sind. Daran fühlt sie sich mitschuldig. Nicht weiter schuldig zu werden, wie sie ihrer Freundin Susanne Hirzel im Dezember in Stuttgart sagte, gilt der Gegenwart und der Zukunft: durch Taten das Ende des Nationalsozialismus und seiner Machthaber – und damit das Ende des Leids – zu beschleunigen.
Eine Frage, für die es bisher keinen Anknüpfungspunkt gab, taucht auf: Führt das Stichwort Schuld nicht auch in eine Vergangenheit, in der Sophie Scholl nicht nur keineswegs gelitten, sondern aktiv in das nationalsozialistische System eingebunden war? Andere junge Menschen dafür begeistert und als Jungmädel-»Führerin« nicht wenige Jahre Verantwortung getragen hat? Kann es sein, dass Sophie Scholl, die so kritisch gegenüber sich selber ist, diese Zeit verdrängt hat? Wieder eine Frage ohne Antwort. In den schriftlichen Hinterlassenschaften, den Briefen und Aufzeichnungen der Kriegsjahre – auch denen von Inge und Hans Scholl – wird dieser Teil ihrer Vergangenheit nicht erwähnt. Als sei es ein Tabu gewesen, an das keiner der Beteiligten rühren durfte oder zu rühren wagte.
Den Glauben an einen gnädigen Gott hatte Sophie Scholl sich in den vergangenen drei Jahren neu erschlossen und erkämpft. Er engte ihren geistigen Horizont nicht ein und stand nicht im Widerspruch zu dem, was vor allem anderen ihre Persönlichkeit ausmachte und wozu sie sich immer wieder bekannte: das Denken. Auch gegenüber Fritz Hartnagel hatte sie seit Beginn ihrer Beziehung auf dem eigenen Denken beharrt. Sie hatte ihn in Krisenzeiten herausgefordert, nicht den Gefühlen zu trauen, sondern hart zu bleiben. Das hatte zu schmerzhaften Missverständnissen geführt, doch die lagen hinter ihnen. Sophie Scholl war glaubwürdig, wenn sie Fritz Hartnagel zum Jahresende 1942 in den Kessel von Stalingrad schrieb: »Hast Du noch zu lesen? Ich möchte Dich immer wieder dazu anspornen, und wenn es noch so sauer ist. Wir haben ja unsern Verstand zum Denken bekommen, das ist eine Arbeit, aber kein Gefühl wird sie uns ersparen können.« Und sie fährt fort: »Die Zeit wird auch nimmer so fern sein, wo Du nicht mehr durch äußere Umstände von einer rechten Arbeit abgehalten bist.«
Es ist die große Hoffnung, die Sophie Scholl seit dem Herbst mit dem Umschwung des Krieges verbindet und in ihren Briefen als Mutmacher artikuliert. Sie ist damit in ihrem Kreis nicht allein. Zum einen kann sie sich auf die politische Einschätzung des Vaters stützen. Und aus ihren Gesprächen mit Carl Muth weiß Sophie Scholl, dass er und sein Freund Theodor Haecker – den sie, der Münchner Kreis und Otl Aicher als Autorität verehren – vom baldigen Sturz des Bösen überzeugt sind. Am 1. Januar 1943 schreibt Theodor Haecker in seine heimlich geführten »Tag- und Nachtbücher«: »Nun hört man schon deutlich das Heulen und Winseln der Dämonen in ihren Phrasen der Angst. Es ist das Heucheln der Amokläufer vor dem Ende.« Zwei Tage später heißt es: »der Anfang vom Ende ist da«. Sophie Scholl darf davon ausgehen, dass sie keinem diffusen Gefühl nachgibt, wenn sie Fritz Hartnagels Lebenskraft mit dieser Hoffnung nährt.
Das Denken hat für Sophie Scholl wesentlich mit Klarheit zu tun, aber auch mit Schönheit. Beides erlebt sie, seit jungen Jahren, intensiv in der Musik. »Ich habe mir aus dem Radio eine schöne alte Musik hergeholt«, schreibt sie Fritz Hartnagel am 30. Dezember 1942, »eine Musik, die die Sinne beruhigt, die mit ordnender Hand durch das verwirrte Herz geht. Diese Schönheit kann niemals schlecht sein, sie atmet ja das Leben eines reinen Geistes, und eines klaren, manchmal mathematisch klaren Geistes«. Sie will die moderne Musik nicht schmähen, aber die brauche Bilder, sei nicht von so abstrakter Klarheit wie Bach oder Mozart.
Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir: Seit Sophie Scholl im Frühjahr 1941 in Krauchenwies bei der täglichen Abendlektüre den Kirchenvater Augustinus für sich entdeckte, ist ihr dieses Gebet unzählige Male durch Kopf und Herz gegangen; es wird ein tröstlicher Begleiter bleiben. Aber Sophie Scholls Glaubensverständnis macht das Denken und die Schönheit nicht zu Handlangern
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