Sophie Scholl
der Religion. Die Schönheit der Musik kann aus eigener Kraft Ruhe in ihr unruhiges Herz und Ordnung in die verwirrten Gefühle bringen. Musik überschreitet die Grenze zwischen Geist und Sinnen, zwischen Denken und Gefühl. Oder: hebt sie auf, lässt sie verschwinden. Die Widersprüche fügen sich zu einem Ganzen. Denn es ist ja nicht so, dass Sophie Scholl Gefühle ausschließt, gering achtet. Sie möchte nicht von ihnen überwältigt werden, sondern im Gleichgewicht bleiben: »O ich glaube wohl, dass das Elend stumpf machen will, doch denke daran: Un esprit dur, du cœur tendre !« Mit dieser Botschaft macht sie Fritz Hartnagel in ihrem Brief vom 3. Januar 1943 Mut, auch wenn die Umstände auf schreckliche Weise dagegen sprechen. Doch Sophie Scholl beschwört nur, was auch sie um jeden Preis bewahren will, um nicht abzustumpfen – einen harten, einen klaren Geist und ein weiches, ein zartes Herz.
EINE FRAU UND DREI MÄNNER: DAS RISKANTE UNTERNEHMEN BEGINNT
8. bis 28. Januar 1943, München
Die Zeit der Reden ist vorbei. Am 8. Januar 1943 fährt Sophie Scholl zurück nach München. In der letzten Januarwoche soll das Flugblatt versandfertig sein, und diesmal ist es nicht nur für den engen Münchner Raum gedacht. In tausendfacher Ausführung soll es auch Menschen in Süddeutschland und Österreich aufrütteln. Trotz aller Arbeit ist die kleine Gruppe der Eingeweihten entschlossen, ihr Studentenleben im alten Stil fortzuführen. Am Bahnhof wartet schon Hans Scholl und nimmt seine Schwester »mit Rucksack und Köfferchen« ins Konzert; wieder einmal spielt der Pianist Edwin Fischer Beethoven. Auch an den Gesprächsrunden in der Leopoldstraße hält Hans Scholl fest. »Später sitzen wir noch lange im Atelier als Gäste und reden viel, fast zuviel«, schreibt Willi Graf am Abend des 8. Januar in sein Tagebuch. Der Architekt Manfred Eickemeyer, der Hausherr, wird am 12. Januar wieder für Monate in sein Krakauer Büro fahren. Er hat zugestimmt, dass während seiner Abwesenheit der mit den Scholls befreundete Ulmer Maler Wilhelm Geyer im Atelier wohnen und arbeiten kann. Hans Scholl hatte die Idee, als er erfuhr, dass der Künstler im Auftrag einer Münchner Firma Glasfenster für die St. Margareta-Kirche im schwäbischen Margrethausen entwerfen soll.
Am 9. Januar ist Willi Graf vormittags in der Franz-Joseph-Straße zum Kaffee. »Am Nachmittag«, heißt es im Tagebuch, »mit Hans zu Besuch in Gräfelfing. Das Gespräch ist lebendig und grundsätzlich.« In Gräfelfing am südwestlichen Stadtrand lebte Professor Kurt Huber mit Frau und Sohn. Willi Graf besuchte wie Sophie Scholl, Gisela Schertling und Traute Lafrenz im Wintersemester regelmäßig Hubers Leibniz-Vorlesung, Hans Scholl eher unregelmäßig. Aber darum ging es nicht an jenem Nachmittag. Die Historiker sind uneins, ob der Professor, der ein »Flugblatt der Weißen Rose« im Sommer in seiner Post fand, schon im Dezember 1942 oder erst im Januar 1943 in den Kreis der Eingeweihten aufgenommen wurde. Entscheidend ist, dass Kurt Huber zwar nicht in die praktische Flugblatt-Arbeit eingebunden war, aber spätestens am 9. Januar zustimmte, bei Bedarf seinen Rat einzubringen.
Wenn Willi Graf oder Alexander Schmorell zum Kaffee oder Tee in die Franz-Joseph-Straße kommen, um über das Projekt zu reden, mischt Sophie Scholl sich in die politischen Diskussionen generell nicht ein – so jedenfalls ist die Überlieferung. Es ist jedoch nicht vorstellbar, dass sie keinen Kommentar abgab, wenn sie die Freunde über Fritz Hartnagels Briefe von der Stalingrad-Front informierte. Ein wichtiger Beitrag, vor allem jetzt, wo in den offiziellen Verlautbarungen zwar das Sieger-Pathos verebbte, aber ein anderer Mythos aufgebaut wurde: vom »heldenmütigen Abwehrkampf« und dem »ergreifenden Heldenopfer«, das zum »Ausgangspunkt eines neuen deutschen Siegeswillens« werden sollte.
Gerade weil sie die Entwicklung an den Fronten, die Parolen der Machthaber und die Stimmung in Deutschland beobachteten, waren Hans und Sophie Scholl, Alexander Schmorell und Willi Graf überzeugt, dass die Zeit für ein Flugblatt günstig war: Die Fronten kamen ins Wanken, die Stimmung in der Bevölkerung sank. Die nationalsozialistische Propaganda griff skrupellos zur letzten Karte und nahm die Bevölkerung offen mit in Haftung für die Staats-Verbrechen. »Selbstverständlich können wir den Krieg verlieren, wenn wir nicht alle Kräfte für den Einsatz mobilisieren«, lautete am 4. Januar 1943
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