Sophie Scholl
paradieren, der täglich vier bis fünf Reden hält; dazu Feuerwerke, Licht-Spiele bei Nacht, düstere Totenehrungen im Fackelschein. Am 15. September, als der Parteitag zu Ende geht, unterzeichnet Adolf Hitler das »Reichsbürgergesetz« und das »Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre«, das die deutschen Juden zu Bürgern zweiter Klasse und minderen Rechts macht, ausgestoßen aus dem »Schutzverband des Deutschen Reiches« und damit vogelfrei geworden.
Aus dem Reichsbürgergesetz, Paragraph 2: »Reichsbürger ist nur der Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes, der durch sein Verhalten beweist, dass er gewillt und geeignet ist, in Treue dem Deutschen Volk und Reich zu dienen. … Der Reichsbürger ist der alleinige Träger der vollen politischen Rechte nach Maßgabe der Gesetze.« Das »Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre« war »durchdrungen von der Erkenntnis, dass die Reinheit des deutschen Blutes die Voraussetzung für den Fortbestand des Deutschen Volkes ist«. Der »schmutzige Jude« hatte nach den Vorstellungen der Nationalsozialisten kein »deutsches oder artverwandtes Blut«. Wer als »Deutscher« mit ihm sexuelle Kontakte hatte, betrieb »Rassenschande«. Mit den Nürnberger Gesetzen war es amtlich: »Eheschließungen zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes sind verboten. … Außerehelicher Verkehr zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes ist verboten.« Allen bisherigen Boykottaufrufen und Hetzkampagnen war es nicht gelungen, die Beziehungen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen so rigoros zu unterbinden, wie es die NS-Antisemiten anstrebten. Die zwei Gesetze vom »Parteitag der Freiheit«, was für ein Hohn, waren das Instrument, um diesem Ziel endlich näher zu kommen.
Die Kirchen schwiegen zu den Konsequenzen einer »Rassenpolitik«, die zwischen Rassen mit mehr oder weniger Menschenwürde differenzierte, zu einer »Theorie«, die pure Ideologie war und jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehrte; eine Bankrotterklärung jeglicher Moral, ein Freibrief für Barbarei und Verbrechen. Die Presse, die noch nicht totales Eigentum der Partei war, hielt sich auffällig zurück mit ihren Kommentaren und versuchte, den »Nürnberger Gesetzen« einen Hauch von Seriosität abzugewinnen. Das »Berliner Tageblatt« hob hervor, der Führer habe davon gesprochen, dass diese Maßnahmen dazu dienen sollten, das deutsche Volk »in ein erträgliches Verhältnis zum jüdischen Volk« zu bringen. Die »Deutsche Allgemeine Zeitung« betonte, das Gesetz »biete dem jüdischen Teil der Bevölkerung, der in unserer Mitte lebt … eine Daseinsmöglichkeit«. Auch die große Mehrheit der Bevölkerung jubelte nicht. Man war eher erleichtert und hoffte, dass die Gewalttätigkeiten vorbei und es endlich Ruhe um die »Judenfrage« geben werde.
Susanne Hirzel war bei ihren Besuchen in der Scholl-Familie immer wieder fasziniert von den offenen politischen Diskussionen, die die Eltern mit ihren Kindern bei den gemeinsamen Mahlzeiten führten. Im Pfarrhaus Hirzel kamen solche Themen nicht auf den Tisch. Es scheint undenkbar, dass die »Nürnberger Gesetze« bei den Scholls nicht kommentiert wurden. Hinweise dazu gibt es allerdings nicht. Doch eine besondere Aufmerksamkeit erfuhr der »Parteitag der Freiheit« schon deshalb, weil Hans Scholl in Nürnberg dabei war.
Die Ulmer HJ stellte eine Abordnung von fünfzig Jungen zum Parteitag, darunter drei Fahnenträger, einer davon war der Fähnleinführer Hans Scholl. Das war eine Auszeichnung. Die Drei nahmen teil am Sternmarsch von 1200 HJ-Jungen, die 341 Fahnen aus dem ganzen Reich zu Fuß zum Parteitag nach Nürnberg trugen. Rund 50 000 Mädchen und Jungen aus BDM und HJ waren zwischen dem 10. und 15. September 1935 in der alten Reichshauptstadt versammelt, um ihrem Führer zu huldigen. Alle Geschichten, die sich mit dem Leben und Sterben von Sophie und Hans Scholl beschäftigen, erzählen von Nürnberg als einem Wendepunkt, erst für Hans Scholl und sehr bald danach für alle seine Geschwister.
Grundlage ist Inge Scholls Klassiker »Die Weiße Rose«, wo sie über ihren Bruder Hans, den Fahnenträger, schreibt: »Seine Freude war groß. Aber als er zurückkam, trauten wir unseren Augen kaum. Er sah müde aus, und in seinem Gesicht lag eine große Enttäuschung.« Die Jugend, »die ihm dort als Ideal vorgesetzt wurde«, entsprach nicht
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