Sophie Scholl
hohe BDM-Funktionärin angereist. Die Vorgeladenen mussten zusehen, wie die übrigen Ulmer Führerinnen einen Kreis bildeten und sangen: »Wo wir stehen, steht die Treue, / unser Schritt ist ihr Befehl, / wir marschieren nach der Fahne, / so marschieren wir nicht fehl. … / Wenn wir stürmen, singt die Treue, / und ihr Singen zündet an. / Und wir glühen wie die Fahne, / dass ihr jeder folgen kann.« Sofie Scholl hatte das populäre Lied oft mit allen hier im Raum gesungen. Nun wurde sie mit diesem demonstrativen Ritual ausgegrenzt, allerdings nicht aus der Hitlerjugend. Sie wurde nur als Führerin abgesetzt. Und durfte weiterhin einfaches BDM-Mitglied bleiben. Das war nicht unwichtig, denn ohne die HJ- bzw. BDM-Mitgliedschaft wurde niemand zum Abitur zugelassen.
Wer hofft, hier einen Anhaltspunkt zu finden, an dem sich Sophie Scholls Bruch mit der nationalsozialistischen Ideologie festmachen lässt, wird wieder enttäuscht. Sie selbst hat solchen Deutungen in ihrem Verhör bei der Gestapo im Februar 1943 einen Riegel vorgeschoben, als sie ihre Karriere beim BDM auflistet: 1935 Jungmädelschaftsführerin, 1936 Scharführerin, 1937/38 Gruppenführerin – »Wegen Differenzen mit der Obergauführerin des BDM … habe ich mein Amt als Gruppenführerin niedergelegt. Bei diesem Zerwürfnis handelt es sich um eine rein innerdienstliche Angelegenheit des BDM ohne jeden politischen Hintergrund«.
Susanne Hirzel nutzte die Gelegenheit, nur noch pro forma Mitglied zu sein, und ging zu keinem Heimabend mehr; nicht so Sophie Scholl. Noch einmal das Protokoll ihre Aussage vor der Gestapo: »Nach meiner Amtsniederlegung ließ ich mich aus der Jungmädelschaft in den BDM übernehmen, wo ich bis kurz vor meinem Staatsexamen als Kindergärtnerin Dienst verrichtete. Den BDM-Dienst habe ich ziemlich regelmäßig besucht.« So unverständlich es ist: Sophie Scholl, die im März 1941 die Kindergärtnerinnen-Prüfung bestand, besuchte bis zum Frühjahr 1941 in Ulm regelmäßig mittwochs die BDM-Heimabende – so sehr es sie langweilte. »Ich danke Dir schön für Deinen Brief«, schreibt sie am 29. September 1939 an Fritz Hartnagel. »Mir pressierts grad arg, in 5 Minuten muss ich in den Dienst. Ich nehme für alle Fälle ein Buch mit, weil es das letztemal so fad war. Aber meine Pflicht, nicht wahr!« Und schließt: »Alles Gute! Mit deutschem Gruß! (ich gehe doch in den Dienst) Sofie.«
Das ist ein ironischer Schlenker. Sophie Scholl weiß, ihr Verhalten ist widersprüchlich. Wir werden diesem rätselhaften Verhalten wieder begegnen, auch weitere Vermutungen anstellen. Überzeugende Erklärungen werden sich dafür nicht finden.
EIN SCHÖNER SOMMER, MIT ZWISCHENTÖNEN
Mai bis August 1938
Am 9. Mai feierte Sophie Scholl Geburtstag. Dass Fritz Hartnagel Glückwünsche schicken würde, damit hatte sie nicht gerechnet: »Ich war richtig platt, dass Du an meinen Geburtstag, der übrigens mein 18. ist, gedacht hast. Ich bin jetzt 17 Jahre alt.« Auch ihr großer Bruder überrascht sie und schenkt ihr Ölfarben zum Geburtstag. Mit dem Jahreswechsel 1937 auf 1938 nahm das Zeichnen endgültig einen festen Platz in ihrem Leben ein; ein Talent, mit dem Sophie Scholl selbstbewusst umging. Im Januar 1938 erfährt Lisa Remppis, dass ein Bild von Sophie Scholl über dem Klavier hängt. Und Inge berichtet Hans Scholl im gleichen Monat von Sophies Zeichenkünsten
Sophie Scholl musste nicht nachdenken, womit sie die freie Zeit nutzen konnte, die sie durch die Absetzung als Gruppenführerin gewonnen hatte. Vier Tage vor ihrem Geburtstag hatte sie an Fritz Hartnagel geschrieben: »Ich hoffe schwer, dass Du am Samstag kommst. Ich mache Dir einen Vorschlag, bei dem Du der Leidtragende bist: Wenn Du von zu Hause ein Auto kriegst, könntest Du uns nach Geislingen fahren.« Sie wolle nämlich »Kley etwas fragen«. Schüchtern war sie nicht und überzeugt, dass ihr Vorschlag bei Fritz Hartnagel Gehör finden würde. Er durfte, wenn er in Ulm war, jederzeit das elegante Auto seines Vaters fahren, Marke Wanderer, ein Neunsitzer mit Trittbrett. Doch Fritz kam nicht an jenem Mai-Samstag. Und Sophie Scholl ging daraufhin ohne ihn ausgiebig tanzen.
Die Hinweise aufs Zeichnen werden in ihren Briefen immer wieder auftauchen. Schon am 19. Mai meldet sie Lisa Remppis, neben dem Klavier- nun auch Zeichenunterricht zu haben. Robert Scholl, der Sohn eines armen Kleinbauern aus dem Mainhardtswald, ist finanziell in der Lage, alle Talente seiner Kinder zu fördern.
Weitere Kostenlose Bücher