Sophie Scholl
brauchte es seiner Tochter nicht weiter zu erklären, denn auch das steht in seinem Brief: »Wegen Hans hast Du das wichtigste schon erfahren.« Am 2. Juni 1938 hatte in Stuttgart der Prozess gegen Hans Scholl, »wegen bündischer Umtriebe« und Verstoß gegen Paragraph 175, stattgefunden; ebenso gegen Ernst Reden und zwei weitere Angeklagte aus Stuttgart. Lina Scholl war zum Prozess gefahren, um Solidarität mit ihrem Sohn zu demonstrieren, und saß aufrecht in der Zuschauerbank.
Senatspräsident Hermann Albert Cuhorst, der dem nationalsozialistischen Sondergericht Stuttgart von 1937 bis 1945 vorstand, war gefürchtet wegen seiner Launen, seiner fanatischen Einstellung und seiner unumschränkten Machtposition. Angeklagte brüllte er nieder, fällte Todesurteile wegen Kleinigkeiten. Aber diesmal hatte er »einen recht guten Tag«, und weiter erfährt Inge Scholl vom Vater: »Mutter hatte am Tag vorher unter meiner Mitwirkung noch an ihn geschrieben. Ich bin überzeugt, dass dieser Brief die richtige Stimmung vorbereitet und in seiner Auswirkung nicht nur Hans, sondern auch Ernst Reden und den Stuttgartern genützt hat.« Ernst Reden, den Lina Scholl im Gerichtssaal demonstrativ mit Handschlag begrüßte, erhielt drei Monate Gefängnis. Sie waren durch die U-Haft mehr als abgegolten. Doch noch im Gerichtssaal wurde Reden, den man wegen seiner Kontakte zu »tusk« für besonders gefährlich hielt, von der Gestapo verhaftet und für drei Monate widerrechtlich ins KZ Welzheim östlich von Stuttgart eingeliefert.
Das Verfahren gegen Hans Scholl wurde eingestellt. Er fiel unter eine Amnestie, galt nicht als vorbestraft und konnte deshalb nach Beendigung des Wehrdienstes ein Studium beginnen. Die Amnestie aufgrund des Straffreiheitsgesetzes vom 30. April 1938 hing zusammen mit Adolf Hitlers bis dahin größtem politischen Triumph. Am 12. März 1938 hatten deutsche Soldaten die Schlagbäume zur Republik Österreich beiseite geschoben; die deutsche Wehrmacht, nebst SS und Polizei, marschierte in Österreich ein. Die Glocken läuteten, die Menschen standen dicht an dicht, warfen Blumen und jubelten, als Hitler noch am gleichen Nachmittag die Grenze überschritt und über Braunau, seine Geburtsstadt, nach Linz fuhr. Weiter ging es nach Wien, wo sich Zehntausende auf dem Heldenplatz versammelt hatten, wieder ohrenbetäubender Jubel und Glockengeläut, als Hitler am 15. März auf den Balkon der Hofburg trat: »Als Führer und Kanzler der deutschen Nation und des Reiches melde ich vor der Geschichte nunmehr den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich.« Am 10. April bestätigten in einer Volksabstimmung 99,7 Prozent aller Wahlberechtigten im nunmehr »Großdeutschen Reich« nachträglich Hitlers Politik und den »Anschluss« Österreichs. Ernst zu nehmende Einwände oder gar Widerstand von Seiten Frankreichs oder Englands gab es nicht. Italiens faschistischer Herrscher Mussolini, der Duce, hatte sich schon vorher mit dem Einmarsch seines neuen Nachbarn einverstanden erklärt.
Der Taumel der Begeisterung über das neue Deutsche Reich war echt, diesseits und jenseits der nun obsoleten Grenze. Endlich war das kleindeutsche, protestantische Reich, das Bismarck 1871 unter Preußens Führung geschaffen hatte, überwunden. Am 14. März saß Hans Scholl in seiner Kasernenstube in Bad Cannstatt: »Meine lieben Eltern, Da wir nun leider doch nicht mit nach Österreich gefahren sind, finde ich endlich Ruhe, Euch zu schreiben.« Der Einmarsch war auf Geheiß Hitlers seit Monaten militärisch vorbereitet worden und bei den Soldaten ein offenes Geheimnis. Hans Scholl beschrieb, welche »Luftschlösser« er und seine Kameraden vom Kavallerie-Regiment sich gemacht hätten: »Abend in Wien, Promenade an der Donau.« Aber dann hätten vor allem Panzer-Regimenter und bayerische Truppen »die Vergnügungsfahrt mitmachen dürfen«. Warum soll der neunzehnjährige Rekrut Hans Scholl den »Anschluss« weniger positiv beurteilen als der Offizier Claus Schenk Graf von Stauffenberg, der im Sommer 1938 das Elite-Studium an der Kriegsakademie beendete und dem eine glänzende Karriere im Generalstab der Wehrmacht offen stand.
Immerhin verhehlt Hans Scholl seinen Eltern nicht, dass ihm widersprüchliche Gedanken durch den Kopf gehen. Neben der Enttäuschung, nicht beim Einmarsch mit dabei gewesen zu sein, stellt sich Nachdenklichkeit ein: »Aber was wird alles noch kommen? Bei uns wird ja ordentlich mit dem Säbel gerasselt. … Ich verstehe die
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