Sophie Scholl
dass nach meiner Auffassung die geistige Freiheit des Menschen in einer Weise eingeschränkt wird, die meinem inneren Wesen widerspricht.« Das mindert die Bedeutung der Verhaftungen im November 1937 für den Ablösungsprozess vom Nationalsozialismus deutlich, schließt aber eine spontane Empörung keineswegs aus. Ein Erinnerungsvorrat hat sich eingenistet, dessen Bedeutung sich bei späteren Entscheidungen erst richtig entfaltet.
Wäre die Entfremdung sofort eingetreten und hätte Sophie Scholl einen weiteren Einsatz für die nationalsozialistische Ideologie nicht ertragen, sie hätte von ihrem Amt als Gruppenführerin bei den Jungmädeln zurücktreten können, ohne Aufsehen zu erregen. Auch Inge Scholl, mit zwanzig Jahren dem Jungmädel-Alter entwachsen, hätte sich dieser Gruppierung problemlos entziehen können. Stattdessen geht das Engagement der beiden Schwestern bruchlos im neuen Jahr weiter. »Inge schreibt gerade ein Märchenspiel für die Jungmädel: König Drosselbart. Sie macht das sehr fein. Ich freue mich, dass wir doch auf diese Art etwas tun können.« Das steht Mitte Januar 1938 in einem Brief Sophie Scholls an Fritz Hartnagel. Und am Ende noch einmal: »Jetzt haben wir dann Probe für das Märchenspiel von Inge, ich spiel nämlich den König Drosselbart.« Der Brief demonstriert auch, dass Sophie und Inge Scholl bei den Jungmädeln nach dem Verdacht »bündischer Umtriebe« keineswegs diskriminiert oder isoliert wurden.
Am 13. Januar schreibt Sophie Scholl an Lisa Remppis, die Freundin, der sie nach wie vor ganz vertraut. Der unbeschwerte Ton dieses Briefes verstärkt den Eindruck, dass die November-Vorfälle sie nicht beschweren; sie sind keiner Erwähnung wert. Anfang und Ende des Briefes erzählen davon, dass sich zwischen dem neunzehnjährigen Hans Scholl und der vierzehnjährigen Lisa Remppis etwas angebahnt hat: »Die Adresse von Hans: Reiter Hans Scholl, 9./Kav. Reg. 18 Bad Cannstatt. Amüsiert Euch gut! Und glaub Hans nicht alles, was er über uns erzählt. Du wärst enttäuscht, wenn Du mich sehen würdest. … An Fasching haben wir nen kleinen Hausball. Pobier, ob Hans Dich mitschleppen kann.« Hans Scholl kannte die beste Freundin seiner Schwester, seit sie im Haus seiner Tante Elise in Backnang auf die Welt gekommen war. Die Familien Scholl und Remppis, samt allen Kindern, waren seit langem befreundet.
Hans Scholl hatte bald nach seinem Einzug in die Bad Cannstatter Kaserne im November 1937 Familie Remppis im nahe gelegenen Leonberg besucht. Mitte März 1938 schreibt er den Eltern: »In Leonberg war ich Samstag abend. Ich habe in Lisa einen Menschen gefunden, den ich ganz lieben kann. Ihr dürft das ja nicht falsch verstehen. Ich weiß, dass Lisa noch ein halbes Kind ist. Ich kann mit ihr nicht philosophieren. Sie ist so natürlich und unverbraucht; und grade das brauche ich.« Sophie Scholl war früher und besser informiert, wie ihr Januarbrief zeigt. Das Thema Liebe und mögliche Komplikationen aufgrund des Altersunterschieds wird bei ihr einen Akkord angeschlagen haben. Sie kann sich gut in die Freundin einfühlen. War sie für den vier Jahre älteren Fritz Hartnagel nicht vielleicht nur ein kleines Mädchen, als Tanztee-Partnerin gerade gut genug? Es klingt durch die Zeilen, dass die sechzehnjährige Sophie Scholl der Vierzehnjährigen die Liebe zu Hans aus vollem, vorurteilslosem Herzen gönnt.
Für den Zeitraum Januar bis Ende Mai 1938 haben sich acht Briefe von Sophie Scholl an Fritz Hartnagel erhalten. Von ihm kein einziger, obgleich sich Sophie Scholl einige wenige Male für einen Brief von ihm bedankt. Ihre Briefe ähneln sehr den ersten, die sie im November und Dezember 1937 geschrieben hat: verkrampft albern, sprachlich schludrig, kreuz und quer durch die Themen springend – wie es Sophie Scholls klarem Denken und ihrem sprachlichen Witz so gar nicht entspricht.
In dieser emotionalen Wirrnis offenbart Sophie Scholl – von denen, die sie kannten, schon früh als verschwiegen bezeichnet – Fritz Hartnagel ihre innersten Gefühle. Als ob sie an einem Fluss steht und versucht, den Menschen am anderen Ufer mit heftigem Winken auf sich aufmerksam zu machen und sich schließlich verzweifelt die Brust aufreißt und ihr offenes Herz zeigt: »Dieser Brief soll zu Deinem Geburtstag sein (ich hab ihn nicht vergessen). Deshalb muss ich Dir wohl einiges wünschen. Also: alles Gute u. s. w. In 4 Jahren hab ich dich dann eingeholt. Hach, nein, stimmt nicht. … Du, Fritz, kommst du
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