Sophie Scholl
Da geht das Telefon, Annelies Kammerer ruft an, »ihre Mutter habe Wein und Sekt heraufgeholt, stell Dir vor«. Anfang des Monats war sie mit Erika Reiff im Kino, »Jugend« hieß der Film. »Er soll sehr gut sein«, schrieb Lina Scholl ihrer Tochter Inge, »vielleicht gehen wir auch noch hin.« Die Mutter äußerte sich lobend über ihre jüngste Tochter: »Sofie hilft beim Kochen, sie ist gut in der Schule.« Die Siebzehnjährige genießt das Leben, aber sie hat auch den festen Willen, »noch viel zu schaffen«, wie sie ihrer Freundin Lisa Remppis mitteilt.
Anfang Oktober schreibt die jüngste der ältesten Schwester Inge, deren Zeit als Hausmädchen in Lesum mit diesem Monat zu Ende gehen wird, dass sie beide nach ihrer Rückkehr in Ulm private Französischstunden nehmen dürfen: »Ich will mich dann auch sehr anstrengen, damit ich Dich nicht aufhalte.« Außerdem meldet sie voller Stolz: »Denk Dir, ich hab schon eine Weihnachtsarbeit fertig und zwar eine Tischdecke für Mutter. Das hättest Du mir doch nie und nimmer zugetraut. Und jetzt habe ich schon für Erika angefangen, ihr Lieder aufzuschreiben, das wünscht sie sich.« Die Freundschaft zwischen den beiden Mädchen festigt sich: »Meine Samstagabende und Sonntage gehören immer Erika. Wir zeichnen meistens zusammen … Am 10. Oktober fängt die Ulmer Schule hier an, dazu wollen Erika und ich uns melden.«
Die private »Ulmer Schule« wurde 1919 gegründet und vermittelte Handwerkern eine zusätzliche künstlerische Ausbildung, was Techniken betraf – Holzschnitt, Keramik, Glasmalerei –, und die »Schulung von Geschmack und Auge«. Finanziert wurde die Institution durch Schulgelder und Aufträge, und die Stadt Ulm gab einen Zuschuss. Das blieb auch nach 1933 so, da der alte Direktor sich den neuen Herren anpasste. Aus dem Faltblatt der »Ulmer Schule« von 1935: »Die Leistungen der Alten Garde unserer Anstalt haben sich inzwischen durch Bodenständigkeit und meisterhafte Handwerkskultur, hervorgegangen aus organischer Bindung an Blut und Boden, in ganz Deutschland einen Namen gemacht.« Neben dem Schulunterricht gab es Abendkurse; Sophie Scholl und Erika Reiff belegten einen in Aktmalerei. »Wir malen hier jetzt immer männliche Akte«, erfuhr Lisa Remppis von Sophie Scholl, »obwohl ich viel lieber weibliche malen würde.«
Neben den fröhlichen wie den fleißigen Stunden des Zusammenseins mit Geschwistern, Freunden und Freundinnen nimmt sich Sophie Scholl Zeit für etwas, das ihr immer mehr zum Bedürfnis wird. »Ich gehe auch gerne allein weg, in den Wald«, so und ähnlich steht es viele Male in diesen Monaten in ihren Briefen. »Ich habe diese Stimmung furchtbar gern – die Birken hingen voller Gold. Alles ist so still und abgeklärt.« Sie sucht die Stille, während sie voller Unruhe auf eine Antwort von Fritz Hartnagel wartet. Sie ist ein Jahr älter geworden und weiß mehr als zuvor, dass es ernst ist. Die verwirrten Gefühle haben sich nicht geglättet, denn es ist kein Spiel. Gerade diese Einsicht hat Sophie Scholl zu der Erkenntnis geführt, die sie in ihrem Brief vom 15. August an Fritz Hartnagel ausgesprochen hat: »Ich bin einfach noch zu jung.«
Am 15. September schreibt Lisa Remppis, dass sie zusammen mit ihrer Klavierlehrerin von Worpswede schwärmt und von einem Buch mit Briefen und Tagebuchblättern der Malerin Paula Modersohn-Becker nicht mehr loskommt. Während der Ferientage in Worpswede hatten Lisa und Sophie erstmals das Werk der Malerin kennengelernt und begeistert Drucke und Karten ihrer Bilder mit nach Hause genommen: »Das Bild ›Knabe und Mädchen‹ steht vor mir. Jeden Tag verstehe ich es besser.« Gleich am nächsten Tag antwortet ihr Sophie Scholl: »Das Bild von dem Jungen und dem Mädchen hängt über meinem Bett, ein sehr wahres Bild. Deshalb hat es mich gleich so berührt, weil ich unbewusst manchmal das auch fühlte. Dazu bin ich zu jung, ich kann solche Aufgaben jetzt noch nicht erfüllen.« Darum: keine Liebesbeziehung, aber eine Freundschaft mit Fritz Hartnagel, den sie nicht mehr missen möchte in ihrem Leben. Dass er auf ihren Brief nicht eingeht, auch als die Krankheit Ende September definitiv überwunden ist, macht es vielleicht sogar unkomplizierter, mit den ungeklärten Gefühlen umzugehen. Fritz komme jetzt nach Ulm zum Erholungsurlaub, schreibt sie Lisa Remppis am 6. Oktober. Man werde wohl zusammen Auto fahren, »obwohl unsere Beziehungen ziemlich locker geworden sind«.
Auto fahren. Kaum wieder
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