Sophie Scholl
in Ulm, stellt Fritz Hartnagel sich bereitwillig als Chauffeur zur Verfügung. Am 9. Oktober geht die Fahrt nach Stuttgart. Dort steigt Lina Scholl aus und fährt mit dem Zug weiter nach Backnang zu ihrer Schwester Elise. Fritz Hartnagel fährt mit Liesl, Werner und Sophie weiter nach Leonberg, um Lisa Remppis zu besuchen. Ansonsten hält sich Fritz Hartnagel während der Ferien fast ausschließlich in der Olgastraße auf. Die Scholl-Familie ist für ihn ein zweites Zuhause geworden.
Eine lockere Beziehung. Am 14. Oktober 1938 ist der Erholungsurlaub für Fritz Hartnagel beendet, und er fährt zurück nach Augsburg. Aus Ulm kommt kein Brief. Diesmal ist Fritz der Erste, der schreibt. Am 19. über seinen Dienstantritt, und wie er abends »ziellos durch Augsburg rennt« und wahllos in einem Kino landet. Keine Antwort. Am 21. folgt der nächste Brief: mit der Schilderung einer »herrlichen, herzbefreienden« Geländefahrt, seiner riesigen Freude auf 150 neue Rekruten, die er anlernen wird – »ich bin wieder mal restlos begeistert von meinem Soldatenberuf«. Dann macht er sich Vorwürfe, »vielleicht interessiert Dich das gar nicht, was ich Dir da vorquatsche«. Schließlich gibt sich Fritz Hartnagel einen Ruck: »Aber ein paar Worte musst Du mir noch erlauben. Weißt du, wenn ich die letzten 8 Tage überdenke, die ich in Ulm verbracht habe, dann überkommt mich eine seltsame Unruhe. Da liegt dieser Brief vor mir, den Du mir vor wenigen Wochen geschrieben hast, und dann kann ich das alles nicht verstehen, dann belasten mich so viele Vorwürfe, so viel Schuld, dann nenn mich einen Lumpen und Verbrecher, verachte mich – hasse mich! Bitte! Du würdest mir viel helfen. Fritz.«
Sechs lange Tage antwortet Sophie Scholl nicht. Am 27. Oktober greift sie zur Feder: »Lieber Fritz! Was soll ich Dir denn antworten? Ich weiß ja, dass ich an einer Schuld ebenso trage wie Du, dass ich zurückgesunken bin, ich weiß – ach, ich weiß nichts mehr.« Sie versteht, wenn er von ihr loskommen will: »Ich werde das tun, was Du möchtest. Aber Gefühle kannst Du von mir nicht verlangen, die man nicht selbst in sich wecken kann. Wir wollen einen Punkt machen hinter alles, was gewesen war. Alles weitere liegt an Dir.«
Vier weitere Briefe wird Sophie Scholl bis in den Januar 1939 an Fritz Hartnagel schreiben, ohne eine Antwort zu erhalten. Sie möchte unbedingt Klarheit haben. Aber während ihre Fragen immer drängender und verzweifelter klingen, wächst im gleichen Maße ihre Einsicht, wie sehr sie selbst ein Teil des Problems ist und es zu einfach wäre, Fritz Hartnagel den Schwarzen Peter zuzuschieben. Sie sei in letzter Zeit in einer bedrückten Stimmung, schreibt sie Lisa Remppis am 10. November 1938, aber sie habe noch unglaublich viel vor, wolle noch vieles schaffen – »ich freue mich in trübster Stunde, dass ich da bin«. Und weiter: »Dieses Gefühl gibt mir immer einen gewissen Halt, es lässt mich nie ganz versinken in die Stimmung, die junge Menschen sicher oft haben und die auch notwendig ist.« Wieder einmal schreibt sie von ihren Spaziergängen im Wald und dem »beglückenden Gefühl, dass ich kleiner bin als die Bäume, winzig klein, dann fühle ich mich glücklich und geborgen und meine, auf alle Menschen verzichten zu können – was natürlich wieder nicht stimmt. Man sehnt sich immer nach einem Menschen, der einen ganz versteht und kennt und tröstet«.
Genau genommen führt Sophie Scholl ein Zwiegespräch zu dritt, denn am gleichen Tag schreibt sie Fritz Hartnagel, sie sei unzufrieden, weil sie das Gefühl habe, »wie wenn noch einiges unklar zwischen uns wäre«. Das möchte sie weghaben: »Wenn ein Schluss sein soll, so soll er doch ganz klar sein …« Wenn und soll: Die Sprache verrät Sophie Scholls widersprüchliche Gefühle, die sie in ihrem Brief an Lisa Remppis deutlich anspricht. Zugleich versucht sie der Freundin gegenüber einen festen Standpunkt zu gewinnen: »Obwohl ich in letzter Zeit gar nicht mehr so suche, Lisa. Es gibt so viele andere Dinge, die ich mir zu eigen machen muss.« Das klingt nach einer Willensentscheidung, die den Verstand über das Gefühl setzt.
Wenn es so einfach wäre. Sophie Scholl hat sich einen neuen Gedichtband von Manfred Hausmann gekauft, ihrem Lieblingsdichter, der in Norddeutschland zu Hause ist. Ihren Brief vom 10. November an Lisa Remppis schließt sie mit einem Gedicht aus dem Band, das den Titel »Trost« trägt.
Ich möchte eine alte Kirche sein
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