Sophies Kurs
grauhaarigen Frau wiederzukommen und zu sagen: »Wir haben keine Zeit zu verlieren.« Dies sei Miss Curwen, die Garderobenfrau, fuhr sie fort. Miss Curwen hielt einen kleinen Matrosenanzug über dem Arm. An Hals und Ärmeln hatte er Ringe, an den Knien die Strapse für einen Blasebalg. Mrs. Curwen hielt ihn gegen meinen Körper. Es schien so, als würde mir der Anzug passen.
Miss Halshaw nahm ihr den Anzug ab und hängte ihn neben ihr Kleid über den Schirm. Mrs. Curwen erhob Einwände. »Ich darf ihn ihr nicht geben, Ma'am«, murmelte sie. »Nicht ohne Einwilligung von Mr. Stackpole.«
»Machen Sie sich keine Sorgen«, meinte Miss Halshaw hoheitsvoll. »Überlassen Sie Mr. Stackpole ruhig mir.« Dann griff sie mir in den Nacken und hob mein strähniges schwarzes Haar. »Die Schere, Mrs. Curwen.«
»Sophie, nein«, rief Betty Pride. Doch ich beachtete sie nicht. Ich stand auf einer Seite von Captain Estranguaros Zeitung vor dem Ofen und ließ mir von der Garderobiere das Haar am ganzen Kopf kurzscheren, wie Papa es immer getan hatte.
Mrs. Halshaw wanderte ununterbrochen auf und ab. Schließlich sagte sie: »Schauen wir mal weiter: Du bist zwar schon auf einem Schiff gereist, hast aber noch nicht darauf gearbeitet. Du bist eine Waise von der Erde und hast noch nie von High Haven gehört. Du darfst es nicht mal erwähnen.«
Sie nahm den Anzug vom Paravent und nestelte an seinem Saum herum. »Denn wenn du eine Fremde bist, brauchst du gar nicht erst nicht viel zu reden. Aber vielleicht heuert er keine Fremden an.«
»Das ist schon in Ordnung«, sagte ich und blies mir die herabsinkenden Haare aus den Augen.
Miss Halshaw kreuzte in ihrem sich auflösenden Morgenmantel weiter durch den Raum wie ein stolzer Schoner. »Und dein Name ist ...«
»Sagen Sie nichts«, rief ich, »ich suche mir selber einen.«
Betty Pride ballte die Hände und preßte die Knöchel gegen ihren Mund. Die Augen über ihren Händen glänzten.
Evadne Halshaws Augen traten aus den Höhlen. Sie legte die Hand auf meine Schulter. »Schätzchen, du darfst nicht improvisieren. Dazu bist du viel zu unerfahren.« Sie preßte die andere Hand gegen ihren Busen. »Du kannst dir nicht erst alles überlegen, wenn du unterwegs bist.«
Plötzlich schien der ganze Raum rot zu werden, wie das Zimmer in meinem Traum. Das Zimmer war rot. Ich hatte einen dunklen Punkt mitten vor meinen Augen, vor dem ich nichts sehen konnte. Ich hörte meine Stimme. Ich schrie.
»Sagt mir nicht, was ich zu tun habe«, schrie ich. »Ihr seid alle gleich, Papa, Mr. und Mrs. Rodney, und auch Mr. Cox! Selbst Kappi will mir immer vorschreiben, was ich tun soll. Ich entscheide selbst, was ich mag und sage, und werde Mr. Cox erzählen, was mir gefällt.« Das schleuderte ich ihnen regelrecht ins Gesicht und begann dabei, mir die Kleider vom Leib zu reißen. Auch im Moment sehe ich sie wieder vor mir, die beiden älteren Frauen und das junge Mädchen. Sie starrten mich an, als hätte ich zwei Köpfe. Ich gab keinen Deut um ihre Verblüffung, um ihre Blicke. Mein Kopf war heiß, und ich fühlte mich unheimlich stark. »Wußtet ihr nicht, daß meiner Mutter egal war, was ich tat und wohin ich ging, denn sie setzte mich aus wie Baby Bulrush. Nicht, daß mir das etwas ausmachen würde!« knurrte ich. »Warum sollte mir das was ausmachen? Sie war eine Hure und hatte keine Zeit, sich um ein kleines Mädchen zu kümmern. Sie war zu beschäftigt, mit feinen Herren zum Mond zu segeln. Soll sie doch ihren Mond behalten – ich muß noch ein Schiff erwischen.« Die letzten Worte sagte ich schon wieder ruhiger, wie ein Reisender, der durch irgendwelche Umstände aufgehalten wird, und streckte dabei die Hände nach dem Anzug aus.
Betty ließ ein aufgeregtes Glucksen hören. Miss Halshaw starrte mich immer noch mit hochgezogenen Brauen an – halb überrascht und halb amüsiert. Dann begann sie plötzlich zu applaudieren. Betty fiel ein, und schließlich klatschte auch die Garderobiere. »Bravo, Miss«, rief sie. Miss Halshaw klopfte mir auf die Schulter und neigte den Kopf auf die Seite wie ein Papagei.
»Starker Auftritt, altes Mädchen.« Dann setzte sie sich hin, lehnte sich zurück und erzählte irgendwas von Zielstrebigkeit und Courage, während Mrs. Cur wen mir in den Anzug half. Danach klatschte sie in die Hände und musterte mich eingehend – zuerst mit dem einen Auge, dann mit dem anderen. »Du brauchst eine Mütze, Schätzchen«, meinte sie. »Haben Sie eine, Curwen? Na schön.
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