SOS Kinderseele: Was die emotionale und soziale Entwicklung unserer Kinder gefährdet - - und was wir dagegen tun können (German Edition)
genau wisse, was sie später mal werden wolle. So weit, so gut. Doch dann stellte sich heraus, dass er von einem vierjährigen Kind sprach! Um das noch einmal zu betonen: Es handelte sich dabei nicht um einen Scherz. Der Redner war der festen Überzeugung, er könne die großartige Entwicklung seiner vierjährigen Tochter daran ablesen, dass sie ihm gegenüber formulierte, was sie später beruflich machen wolle.
Ganz klar: Dieses Kind verhält sich völlig normal. Jeder Vierjährige erzählt seinen Eltern oder anderen Bezugspersonen schon mal, was es werden möchte, wenn es groß ist. Das kann heute der Polizist sein, morgen der Astronaut und übermorgen Rennfahrer. Oder wahlweise auch Prinzessin, Dinosaurierjäger oder Wikingerkönig.
Man sieht bereits: Realismus schreiben Vierjährige bei ihren Zukunftsprognosen nicht so groß. Wie soll es auch anders sein bei Menschen, die sich in einer magischen Phase ihrer geistigen Entwicklung befinden und sich die Welt so gestalten, wie sie sie sich wünschen? Das ist für dieses Alter vollkommen normal und gehört zum Entwicklungsverlauf. Nicht normal ist hingegen die Reaktion eines Erwachsenen, der diese Äußerungen (in diesem Fall wird es wohl keine Dinojägerin, sondern ein existierendes Berufsbild gewesen sein) ernst nimmt und dahingehend interpretiert, dass seine Tochter bereits klar umrissene Vorstellungen von ihrer Zukunft habe.
Das Beispiel zeigt, dass Intuition und realistische Einschätzung von Kindern zunehmend verloren gehen, sowohl bei Eltern als auch, leider in immer stärkerem Maße, bei Pädagogen. Hier zeigt der ständige Druck von außen durch Theoretiker in den Erziehungswissenschaften und Politiker, die diese Theorien anschließend in Vorschriften gießen, Wirkung. Welche Folgen das hat, zeigt ein Beispiel aus einem Kleinstadtkindergarten, der kurz vor einer Landtagswahl ein spezielles Angebot entwickelt hatte.
Ausgehend von der Annahme, man könne nie früh genug anfangen, Kindern demokratisches Gedankengut und entsprechendes Handeln beizubringen, entschloss sich die Kindergartenleitung, einen ganzen Monat unter das Motto »Wahlen« zu stellen. Die Kinder sollten »Parteien« gründen, »Programme« und »Forderungen« aufstellen und diese den anderen Kindern präsentieren. Zusätzlich zeigten die Erzieherinnen ihnen Porträts der lokalen Spitzenkandidaten, und die Kleinen sollten entscheiden, wen sie am »besten« finden. Schließlich kam man auf die Idee, einen dieser Spitzenkandidaten in den Kindergarten einzuladen, damit er den Kindern erklären möge, wie Politik funktioniert, warum Demokratie wichtig ist und was er als Politiker den ganzen Tag so macht.
Natürlich war das Ganze theoretisch unterfüttert, allein aus der Intuition der klassischen Kindergartenerzieherin heraus wäre eine dermaßen aufwendige Aktion wohl kaum entstanden. Die Kindergartenleitung verteilte gedruckte pädagogische Ausführungen wie diese an die Eltern, um ihnen den Sinn der Aktion zu erklären:
»Politische Ereignisse werden schon von sehr jungen Kindern wahrgenommen und individuell gedeutet. Ihnen begegnen politische Inhalte im täglichen Leben: in den Medien, im Kindergarten, auf der Straße und auch durch die Gespräche der Erwachsenen. Schon im Vorschulalter und Kindergarten findet unbewusst politisches Lernen statt. Dagmar Richter erklärt, dass junge Kinder nicht nur aus bildungs-, sondern auch aus demokratietheoretischen Gründen das Recht auf politische Bildung haben, denn ›politische Bildung vermag das Weltwissen der Kinder zu differenzieren und zu ergänzen und trägt somit zur Aufklärung bei‹.« 8
Nun, wer kann bei diesem hehren Anspruch schon Kritik üben? Die Autoren bemühen nichts Geringeres als die Aufklärung, das jahrhundertealte große Projekt, aus dem unsere demokratische Kultur erwachsen ist und immer wieder neu erwachsen muss. Aufklärung soll auch den Kleinsten schon zuteil werden, um ihr »Weltwissen« zu vergrößern. Klingt gut. Liest man diesen kurzen Abschnitt aus entwicklungspsychologischer Sicht und hat die Pyramide der psychischen Entwicklung kleiner Kinder vor Augen, stellt sich das Ganze allerdings etwas anders dar. Sicher: Die Aktion als solche wird den Kindern nicht geschadet haben. Einen Nutzen für die kindliche Entwicklung dürfte sie genauso wenig gehabt haben, doch exakt davon waren die Kindergartenleitung und auch ein Teil der Elternschaft überzeugt.
Man erkennt an diesem Beispiel recht gut das immer wiederkehrende
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