SOS Kinderseele: Was die emotionale und soziale Entwicklung unserer Kinder gefährdet - - und was wir dagegen tun können (German Edition)
Muster: Erwachsene sehen Kinder als kleine Erwachsene und meinen, sie müssten die Kleinen ganz selbstverständlich mit den Anforderungen und Problemen der Erwachsenenwelt konfrontieren. Der Frühförderwahn, der sich üblicherweise in Chinesischkursen für Vierjährige und Ähnlichem äußert, gerät hier in politisches Fahrwasser. Die Idee heißt: Wer als Fünfjähriger im Kindergarten Demokratie »gelernt« hat, der wird auch später mal ein echter Demokrat und ist weniger anfällig für extremes, undemokratisches Gedankengut.
So gut das gemeint sein mag, in Wirklichkeit sind Kindergartenkinder durch solch ein komplexes Thema komplett überfordert. Und was die Demokratie beziehungsweise demokratisches Handeln angeht: Kinder, die die Chance haben, eine altersgemäße psychische Entwicklung zu durchlaufen, werden auch die psychischen Fähigkeiten entwickeln, die für demokratisches Handeln und Denken notwendig sind. Dazu gehören Einfühlungsvermögen und Empathie, damit sie in der Lage sind, Mitmenschen und ihre Meinungen ernst zu nehmen und zu respektieren, oder auch ein Unrechtsbewusstsein, damit sie zwischen richtigem und falschem Handeln unterscheiden können.
Auch dieses Beispiel zeigt es deutlich: Pädagogen und Erziehungswissenschaftler verstehen immer weniger, dass es nicht möglich ist, kleine Kinder über Erklären und Verstehen zu erziehen. Ein Fünfjähriger kann noch nicht im eigentlichen Sinne perspektivisch denken, deshalb »lernt« er aus langen Erklärungen auch noch nichts. Wie aus der Entwicklungspyramide gut ersichtlich ist, beginnt diese Phase des Lernens frühestens mit zehn Jahren. Ich kann einem Fünfjährigen zwar erklären, was Demokratie bedeutet, und vielleicht begreift er auch ansatzweise etwas davon. Er wird jedoch daraus nicht zwangsläufig ableiten, dass er künftig mit seiner achtjährigen Schwester und dem zehnjährigen Bruder ausdiskutiert, wer welche Süßigkeiten nehmen darf, und alle drei anschließend demokratisch darüber abstimmen.
Harmoniesucht – Eigentlich ist doch alles gut
Warum es so schwierig ist und sicherlich auch bleiben wird, die Problematik der emotionalen und sozialen Nichtentwicklung von Jugendlichen deutlich zu machen, wurde mir im März 2013 noch einmal richtig bewusst. Ich las einen Artikel in der Zeit aus Anlass der kurz vorher erschienenen Shell-Studie, in der in regelmäßigen Abständen die aktuelle Jugendgeneration porträtiert wird, um daraus gesellschaftspolitische Denkanstöße zu entnehmen.
Der Untertitel des Artikels lautete: »Harmonische Familien: Die Generationen verstehen sich besser denn je.« 9 Der Autor zitiert aus der Studie und berichtet beispielsweise, dass 74 Prozent der Eltern von »Harmonie, Wärme und Geborgenheit im Zusammenleben« erzählen. Als zusätzlichen Beleg für die Harmoniethese stellt ein Forscher des Deutschen Jugendinstituts fest: »Es gibt kaum noch wirkliche Konflikte zwischen den Generationen.«
Ob diese Diagnose zutreffend ist oder nicht, spielt indes gar nicht die entscheidende Rolle. Gehen wir davon aus, dass diese Zitate und die Ergebnisse der Studie in etwa die Wahrnehmung der Befragten wiedergeben, so muss mir die ketzerische Frage erlaubt sein: Wie sollen denn auch Konflikte entstehen, wie sollen Eltern oder Jugendliche Probleme im Zusammenleben erkennen, wenn Eltern in der Symbiose psychisch mit ihren Kindern verschmelzen? Wenn Großeltern sich nicht mehr abgrenzen, sondern auf jede Forderung und jedes Gemecker der Enkel eingehen, weil sie sich in der Projektion befinden und geliebt werden wollen?
Was ich damit sagen will: Gerade die Beziehungsstörung der Projektion hat als Nebeneffekt auch den Wunsch nach Harmonie. Erwachsene in der Projektion haben Angst, nicht mehr geliebt zu werden, wenn sie den Kindern widersprechen. Damit erzeugen Eltern ein innerfamiliäres Klima, in dem tendenziell immer eitel Sonnenschein herrscht. In der Symbiose löst ein Widerspruch des Kindes bei den Eltern eine Art Schmerz aus. Sie empfinden das Kind als Teil ihrer selbst, und mit einem Körperteil meiner selbst habe ich keine Auseinandersetzungen. Auch hier wird Konfliktpotenzial von vornherein ausgeblendet, wiederum entsteht tendenziell ein harmonisches Familienklima.
Doch diese Harmonie ist teuer erkauft. Ihr Preis ist die fehlende Selbstständigkeit des erwachsenen Menschen. Psychische Funktionen bilden sich nicht automatisch in einem Klima stetiger Harmonie, für diese Entwicklung brauchen Kinder ein abgegrenztes,
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