SOS Kinderseele: Was die emotionale und soziale Entwicklung unserer Kinder gefährdet - - und was wir dagegen tun können (German Edition)
Dieses Testen ist kein im eigentlichen Sinne freches Verhalten, auch wenn es nach außen natürlich so wirkt. Es ist auch keine Frage der Intelligenz. Die Vermutung also, der Neunjährige müsste doch aufgrund seiner Intelligenz einsehen können, dass er sich anders verhalten sollte, schlägt fehl. Um beim Bild des Computers zu bleiben: Das Betriebssystem »Psyche« stellt gewissermaßen keine Verbindung zum installierten Programm »Erziehung« her, das auch dieses Kind von zu Hause mitbekommen haben mag.
Hier liegt der Grund, warum Schule immer mehr versagen muss, warum immer mehr Klassen überhaupt nicht mehr als Klassengemeinschaft funktionieren, warum immer mehr Schüler so gut wie nicht zu unterrichten sind und warum den Kindern die Lernmotivation fehlt. Und es ist auch der Grund, warum immer mehr Schulabgänger die Inhalte, die sie bereits gelernt haben, im Berufsleben nicht abrufen können.
Bei immer mehr Lehrern führen diese Erfahrungen zum Burn-out oder zumindest zu zeitweiligen Ohnmachtsgefühlen. Sie haben es mit ganz neuen Störungsbildern zu tun und sind nicht darauf vorbereitet, denn die Hintergründe für das Verhalten der Kinder sind vollkommen andere als vor vielen Jahren bei den relativ wenigen Kindern mit Lernauffälligkeiten. Lehrer müssen also erkennen, dass ihnen ihre Lehrerausbildung kaum etwas nutzt, sie können als Pädagogen noch so gut und qualifiziert sein, sie haben trotzdem den Eindruck, gescheitert zu sein.
Wie das Nachreifen der Psyche gelingen kann
Was ist also notwendig? Um weiterhin im Bild zu bleiben, das ich für dieses Kapitel gewählt habe, müsste ich sagen: Diese Kinder brauchen ein Update fürs Betriebssystem. Als Kinderpsychiater sage ich: Sie müssen nachreifen, sie brauchen den Erwachsenen als ein klares Gegenüber, an dem sich ihre Psyche nach und nach entwickeln kann, bis sie den Stand ihres biologischen Alters erreicht hat.
Das klingt komplizierter, als es eigentlich ist. Es ist sogar im Grunde ganz einfach, vielleicht das Einfachste auf der Welt, denn sonst hätte es ja nicht Generation um Generation von Kindern gegeben, die, von Ausreißern abgesehen, psychisch eine vollkommen normale Entwicklung zeigten. Kompliziert ist die Angelegenheit ohnehin nicht durch die Kinder, sondern durch uns Erwachsene. In unserer Gesellschaft sind die Gründe verankert, die es uns so schwer machen, im Verhältnis zu Kindern noch intuitiv und angemessen zu reagieren. Das ist auch der Grund dafür, dass ich als Kinderpsychiater in der Regel mehr mit den Eltern arbeite als mit den Kindern.
Im Grunde sind mehrere Erkenntnis- und Handlungsschritte notwendig. Zunächst einmal müssen Eltern und Lehrer natürlich erkennen und akzeptieren, dass das Kind, das sie vor sich haben und das sich vielleicht vollkommen unmöglich benimmt, sich nicht so verhält, weil es die Erwachsenen bewusst ärgern will. Es handelt sich dabei um ein unbewusstes Verhalten, das von einer nicht altersgemäß entwickelten Psyche ausgelöst und gesteuert wird. Es kann für Eltern und Lehrer dabei hilfreich sein, sich immer wieder die eingangs beschriebene Entwicklungspyramide in Erinnerung zu rufen. Nicht altersangemessenes Verhalten ist dadurch leichter zu erkennen, und in Kombination mit dem von mir in meinen Büchern dargelegten Hintergrundwissen können Eltern und Lehrer gezielter reagieren.
Muss der Lehrer in der Schule also jeden Arbeitsauftrag drei- oder viermal erteilen, so ist es sehr wahrscheinlich, dass da ein Schulkind mit der Psyche eines Kleinkinds vor ihm sitzt, das unablässig versucht, ihn entsprechend seinem Weltbild zu steuern. In diesem Weltbild ist der Lehrer ein Gegenstand, und der Schüler vergewissert sich über sein Verhalten immer wieder dieser »Tatsache«.
Analog gilt das für diverse Situationen in der Familie, die immer wieder zu Stress, Streitereien und Tränen führen. Mein Rat für betroffene Eltern: Überprüfen Sie, wie diese Streitereien entstehen. In der Regel schaukelt sich die Situation hoch, weil ein Wort das andere gibt. Vater oder Mutter verlangen irgendetwas vom Kind, dieses führt das Gewünschte aber nicht aus. Daraus folgt eine erneute Aufforderung, jetzt wahrscheinlich schon in etwas schärferem Tonfall, was auf das Kind aber wenig Eindruck macht. Es bleibt bei dem, was es gerade tut, und macht keine Anstalten, der Aufforderung der Eltern Folge zu leisten. Nun kommt oft genug noch Zeitdruck hinzu, die Eltern erwarten vom Kind, dass es ihre Anweisung jetzt und gleich
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