SOS Kinderseele: Was die emotionale und soziale Entwicklung unserer Kinder gefährdet - - und was wir dagegen tun können (German Edition)
ausführt, die Stimmung wird entsprechend immer gereizter, elterlicher Wunsch und kindliche Reaktion stehen sich diametral gegenüber.
Wenn sich aber bei den Eltern die Erkenntnis einstellt, dass sich hinter der Fassade ihres vielleicht zehnjährigen Kindes emotional ein Kleinkind befindet, wäre auch deutlich, dass sein Verhalten nicht aus einer Verweigerung resultiert, sondern aus einer Überforderung. Diese Erkenntnis ist enorm wichtig, denn normalerweise reagieren Eltern dann ganz anders auf das Verhalten ihres Kindes: Gehe ich von einer Verweigerung aus, so ist es relativ wahrscheinlich, dass ich verärgert und wütend reagiere. Ich habe schließlich das Empfinden, das Kind ignoriere absichtlich meine Aufforderungen, weil es keine Lust hat, oder gar, weil es mich ärgern möchte.
Erkenne ich das Verhalten des Kindes dagegen als Überforderungssignal, so wird meine Reaktion anders sein. Auf Überforderung reagiere ich normalerweise mit einer Reduzierung des Drucks. Während ich also bei der Verweigerung den Druck fast automatisch erhöhe, um zu dem von mir gewünschten Ergebnis, also zum Beispiel dem Ausführen meiner Anweisung, zu kommen, nehme ich bei einer augenscheinlichen Überforderung Druck raus. Ich versuche, Ruhe in die Situation zu bringen, ob nun in der Familie, im Kindergarten oder in der Schule. Druck rauszunehmen, heißt dabei indes nicht, das Lernniveau abzusenken oder die Kinder allein laufen zu lassen. Es geht immer nur darum, durch Ruhe und Beziehung in den Abläufen Entwicklung zu ermöglichen.
Die Überforderung des Kindes liegt hier, auch das muss man sich immer wieder klar machen, nicht an einem Zuviel an Forderungen der Eltern oder an Lerninhalten in der Schule. Die Überforderung liegt darin, dass diese Kinder nicht altersentsprechend lern- und leistungsfähig sind. Bei meinen Vorträgen, die ich häufig vor Lehrerkollegien halte, bekomme ich mittlerweile Zahlen zu hören, die auf einen Anteil von 50 bis 70 Prozent betroffener Schüler in Grundschulen hindeuten. Tendenz steigend.
Ruhe ist also einer der wesentlichen Bestandteile der Grundhaltung zur Nachreifung. Ruhe in die Abläufe zu bringen, ob nun in der Familie oder in Kindergarten und Schule, sich Zeit zu nehmen, keinen künstlichen Druck aufzubauen, ist essenziell, um ein Hochschaukeln von Situationen zu verhindern. Die Tatsache, dass es Erwachsenen heute immer schwerer fällt, ebendiese Ruhe zu bewahren, ist dem Hamsterrad geschuldet, in dem sich immer mehr Menschen befinden. Die Psyche kommt kaum mehr zur Ruhe, der Mensch ist dauerhaft nach außen gerichtet, spürt sich selbst kaum noch und ruht somit nicht mehr in sich, ganz wie in einer echten Katastrophensituation.
Den daraus entstehenden Druck geben Eltern in Konfliktsituationen mit dem Kind an das Kind weiter. Gerade Eltern, die sich in einer Symbiose befinden, reagieren reflexartig auf das Verhalten ihres Kindes und geben der kindlichen Psyche damit immer wieder das Signal, es handle sich beim Gegenüber, also den Eltern, um einen Gegenstand, der auf Reize von außen immer sofort und heftig reagiert. Dieses reflexartige Reagieren ist im Rahmen der Symbiose immer zu beobachten, ebenweil der Erwachsene psychisch nicht mehr zwischen sich und dem Kind unterscheidet. Eltern nehmen ihr Kind wahr wie einen eigenen Körperteil. Und was passiert, wenn man an einem Körperteil Schmerz empfindet? Man denkt nicht weiter darüber nach, sondern ruft automatisch »Aua!« und versucht durch wie auch immer geartete Gegenmaßnahmen zu erreichen, dass der Schmerz nachlässt. Genauso empfindet der Erwachsene in der Symbiose das Kind. Er reagiert automatisch darauf, dass sich das Kind seinen Anweisungen scheinbar widersetzt, und versucht, so schnell wie möglich eine Änderung der Situation herbeizuführen, häufig durch Druck und Androhung von Konsequenzen.
Der Erwachsene in der Symbiose versucht also für gewöhnlich, das Kind direkt dahin zu bringen, dass es Anweisungen ausführt, denn der Arm würde sich ja normalerweise auch nicht widersetzen. Die Eltern gehen dadurch immer und immer wieder in Machtkämpfe mit dem Kind, die sie nicht gewinnen können. Schnell wird der Umgang mit dem Kind dabei immer rigider, die Eltern drohen und arbeiten mit Strafen. Wenn das Kind dann tatsächlich irgendwann die Anweisung ausführt, sind die Erwachsenen zufrieden. Jammert das Kind weiter, klagt und macht nichts, fühlen sich die Eltern oft ohnmächtig und resignieren.
Wie passend diese Analogie
Weitere Kostenlose Bücher