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Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Titel: Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dutli
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bis hierher gefunden hatten?
    Er glaubt, ein »marsch, marsch!« zu hören, aber nein, das war es nicht. Dann scharfes Hundegebell, Geheul, langgezogen und wütend, wie wenn man Jagdhunden einen Teil der Beute zum Fraß hinwirft, und die Hunde können sich nicht entscheiden, ob sie sich über die Almosen jaulend freuen oder das Ende der Jagd beklagen sollen. Es roch jedenfalls nach nassem Hundefell, nach dem Schweiß von tausend Hunden.
    Eine Horde hochgewachsener Männer in schwarzem Leder, der Maler kann es durch die glasig gewordenen Fahrzeugwände deutlich sehen. Hat der Mohnsaft sie hergespült? Nein, da waren wirkliche Geräusche und wirre Sprechlaute, der Leichenwagen war voll von ihnen. Die Ledermänner fletschen die Zähne, brüllen auf den Leichenwagen ein.
    So leicht kommst du uns nicht davon!
    Ihre Gesichter sind voller Narben und Schnitte. Sie tragen seltsame, in die Haut getriebene Metallteile im Gesicht, durchbrochene Augenbrauenwülste, Lippen, Nasenflügel. Grässliche Tätowierungen steigen bis zu ihren Hälsen auf.
    Wikinger, Normannen! fährt es dem Maler durch den Kopf, und er erinnert sich an einen Sonntag, als er bei den Bouquinisten am Seine-Ufer auf ein Buch mit Abbildungen stieß, die ihn schaudern machten. So also sahen sie aus, dachte er an jenem Sonntag. Sie waren die Seine heraufgesegelt und hatten alles in Schutt und Asche gelegt, Kirchen geschändet, die Bauern massakriert. Nein, es sind keine Wikinger, aber sie sehen, so scheint ihm, nach Norden aus und Kälte, sie haben grässlich klaffende Kiefer, die von ihrer Sprache auseinandergerissen werden, sie müssen metallische Gelenke haben, ihre Bewegungen sind schroff und eckig. Ihre Stimmen gellen, das sind keine menschlichen Laute mehr.
    Die Motorräder heulen auf, Tritte von Stiefeln gegen den Asphalt, schon gleitet der schwarze Citroën weiter, umzingelt von mehreren Motoren. Die Kornfelder werden schwarz, die Krähen verdecken das goldene Stroh, die Stoppeln, wo es nichts mehr aufzupicken gibt. Kein verständliches Wort war gefallen.
    Wie lange dauert die Fahrt? Er kann es nicht wissen. Sie gelangen nach Minutenstunden an ein schwarzes Gitter, das in einer Schiene läuft, hastig aufgeschoben wird von wimmelnden Wachmännern. Er wird erwartet. Der schwarze Rabe rollt über die Schiene, es gibt einen Ruck. Die Wölfe in ihren Ledermänteln wollen hinein, doch sie werden zurückgestoßen, die Kolben fahren gegen ihre Knie. Aus einem weißen langen Gebäude, das wie ein Hangar aussieht oder eine Fabrik, kommen jetzt weißvermummte Männer herausgelaufen mit einer Bahre. Er muss an die Michelin-Männchen denken, die aus lauter Autoreifen bestehen. Sie laufen zum Leichenwagen, greifen nach dem Maler, schieben ihn von seiner Pritsche auf die Bahre. Sie tragen ihn auf den weißen Hangar zu.
    Die schwarze Meute muss vor dem Schiebegitter zurückbleiben, heult auf in geiferndem Zorn, die Wolfszähne fletschend, mit Fäusten drohend. Der Maler sieht von der Bahre noch, wie einer das Bein hebt und an die Eisenstangen uriniert, er sieht den scharfen Strahl, dann wird er von den schnell rennenden weißen Tauchern durch mehrere weiße Schiebetüren getragen, immer weiter ins Innere des Hangars, dessen Decke immer niedriger wird. Was ist das, eine Klinik, eine Flugzeughalle, Fabrik? Alles ist weiß hier, die hastenden Männer mit ihrer Bahre, vorbeihuschende stumme Wesen mit weißen Hauben. Die schwarzledrigen Gehilfen bleiben vor dem Schiebetor ausgesperrt.
    Weiß, endlich Weiß!
    Wo ist er hingeraten? Er liegt in einem sauberen weißen Bett, ein weißes Laken ist auf der Höhe der Brust zurückgeschlagen. Seine Hände ruhen auf einer makellos weißen Decke. Weiß um ihn her, nur Weiß. Weißes Licht, das von einer blendenden Glühbirne von der Decke kommt. Kein anderer Patient neben ihm, nur weiße Wände. Waren Tage vergangen, Wochen, Sekunden?
    Er versucht sich zu erinnern, aber er ist nicht dort, wo seine Erinnerung ist. Wo ist er? Wo er ist.
    O Musik der Zapfen und Rezeptoren! Die Mischung gleicher Intensitäten in den Rot-, Grün- und Blauzapfen lenkt sein entzücktes Auge geradewegs ins weiße Paradies. O Farbe der Unsterblichkeit und Unendlichkeit, die Farbe der Erleuchtung und der Heiligkeit! Doktor Bog wird es ihm erklären.
    Der Maler hatte sie gesucht, die Allesfarbe, hatte sie gehätschelt, aber nie in der Reinform, nie als unbunte Farbe. Reinheit hat ihn nie gereizt. Er vervielfacht die Einmischungen, zaubert blutige feine Striemchen

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