Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
Antiseptikum ist nicht der Weisheit letztes Ende. Erhebt eure desinfizierten Augen in die Höhe, wo die Bilder mehrreihig übereinander hängen. Das Schatzhaus ist schon fast voll, da erwacht der Jagdinstinkt im Pharmazeuten erneut.
O Erleuchtung der Augen! Im Dezember 1922 taucht er also wieder auf, und ihm voraus das Gerücht von Tausenden von Dollars, die durch die engen Straßen vom Boulevard Saint-Germain bis zum Ufer der Seine hinunterrollen würden. Er klappert die Galerien ab, verbündet sich mit Paul Guillaume, dem Sammler und Galeristen für afrikanische Kunst, läuft als amerikanischer Napoleon durch die Rue Bonaparte. Strenger Blick durchs Brillenglas, dann breit und jovial, mit plötzlich hervorbrechendem Lachen. Das eine Auge des Pharmazeuten streng und fordernd, das andere Auge des Bildersüchtigen enthusiastisch und gerührt. Die ganze Menschheit beruht auf der Augenlust, den aberwitzigen Augenweiden. Albert Coombs Barnes ist fünfzig. Er will kein Gekleckse kaufen, er ist auf der Suche nach den Genies. Montmartre und Montparnasse sind elektrisiert vom Auftritt des amerikanischen Krösus, und die Galeristen spitzen die Ohren, wenn die Dollars auf der Gasse klimpern. Wen würde es diesmal treffen, wer wird diesmal ein gemachter Mann sein?
Amerika hat ihn erfunden, jetzt will er Amerika etwas zurückgeben, ein Augenparadies, vollgepackt mit Meisterwerken der modernen Malerei, mit dem Besten, was man für gute harte Dollars kriegen kann. Bei Guillaume stößt er auf Soutines Konditorjungen und traut seinen pharmazeutischen Augen nicht. Der kleine Lehrling ist unerhört, es hat noch keinen seiner Art in der Malerei gegeben. Konditorlehrlinge wurden bisher übersehen. Guillaume hatte ihn entdeckt, als er bei einem Maler einen Modigliani anschauen ging. Da fiel sein Blick auf diesen unglaublichen Zuckerbäcker und schreit innerlich: Meisterwerk! Und bleibt scheinbar ungerührt, um den Preis nicht hochzutreiben.
Rot, eine zügellose Feier von Rot: Zinnober, Karmesin, Purpur, Amarant, Kirschrot, Krapprot, Scharlachrot, Rubin … Es ist der Konditorjunge, den Soutine in Céret gemalt hat: Rémy Zocchetto mit Namen, siebzehn Jahre alt. Mit einem riesigen, abstehenden rechten Ohr geschlagen und mit dem roten Taschentuch, das die linke Hand wie einen Stummel verbirgt. Ein großer blutroter Fleck über dem Bauch, der den Ort markiert, wo Magengeschwüre wohnen. Ein Bild, das Soutines Leben verändern wird. Ja, es ist seine Eroberung Amerikas. Barnes ist außer sich vor Entzücken.
Wonderful, wonderful … Show me more!
Zwei Wochen lang muss Guillaume ihn mit seinem glänzenden Automobil, einem Hispano-Suiza, in der Stadt herumkutschieren, die Galerien abklappern. Der Jagdinstinkt ist jeden Tag neu, für immer unersättlich. Auch jetzt will er sofort den Händler des Konditorjungen sehen. Zborowski ist überrumpelt, er versteht zunächst überhaupt nicht, dass Barnes wegen dieses grässlichen Soutine kommt, er will ihm Modiglianis verkaufen, die seit dem Tod des Italieners fette Summen einbringen. Nein, diesmal nicht.
Ich will Bilder von diesem Soutine sehen, ja verstehen Sie denn nicht?
Der Pharmazeut aus Philadelphia wird ungeduldig. Und der verdatterte Zbo geht in die Knie und zerrt die Leinwände unterm durchgesessenen Sofa hervor, eines nach dem andern. Er schaut den verrückten Amerikaner von der Seite an, Guillaume schickt Zbo mit seinen Augenbrauen ein Zeichen.
Und Mister Argyrol stammelt immer wieder sein
wonderful
…
wonderful
…
Barnes gerät in einen Rausch und kauft über fünfzig Bilder zusammen, einige am Montparnasse raunen sogar von siebzig, und manche behaupten, es seien hundert gewesen. Der Montparnasse des Gerüchts ist ein gewaltiges Vergrößerungsglas. Da steht er mitten in Zborowskis Wohnzimmer und verkündet mit der allmächtig dröhnenden Stimme des Pharmazeutengottes:
This one, and this one, and this one
…, als habe die Woche nicht nur sieben Tage. Er kauft sie zu Bonbonpreisen, fünfzehn, zwanzig, höchstens dreißig Dollar für ein Gemälde. Beim ersten Anfall sind es zweiundfünfzig von Soutine. Für ein paar Schachteln Argyrol, das die Augen desinfiziert. Aber Pharmazeutengötter schaffen Mythen, eine neue Aura des Begehrens und Begehrtwerdens.
Der Montparnasse hat nun ein amerikanisches Märchen, und es wird fiebrig weitererzählt. Alle stottern vom Eintritt des Amerikaners und wie er Soutine aus dem Teich der versoffenen Maler am Montparnasse herausgefischt hat mit
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