Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Späte Schuld

Späte Schuld

Titel: Späte Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Kessler
Vom Netzwerk:
Andererseits: Was erreichte er damit? Wenn sie auf ihrem Zimmer gewesen wäre, hätte Alex sie längst erreicht. Sie musste also irgendwo unterwegs sein und hatte ihr Handy vermutlich ausgeschaltet.
    Es klopfte an Claymores Tür.
    »Wer ist da?«, rief er.
    »Wartungsdienst«, antwortete eine weibliche Stimme.
    Überrascht stand er vom Sofa auf. Er hatte Wartungsarbeiten immer mit Männern assoziiert.
    Als er die Tür öffnete, stand Gene vor ihm. Das allein wäre schon beängstigend genug gewesen, aber sie hatte eine Pistole in der Hand und richtete sie auf seine Brust.
    Langsam wich er ins Zimmer zurück, und sie folgte ihm und schloss die Tür.
    »Jetzt mach kein so überraschtes Gesicht«, sagte sie ruhig. »Irgendwann holt jeden die Gerechtigkeit ein.«
    Statt ängstlich oder wütend auszusehen, blickte er sie voller Mitgefühl an. »Gerechtigkeit … oder Rache?«
    »Was gibt ausgerechnet dir das Recht, mir diese Frage zu stellen?«
    »Haben Sie auf Ihre Rache nicht ein bisschen lange gewartet? Sie wussten doch sicher schon länger, wer ich bin. Warum haben Sie bis jetzt gewartet?«
    »Weil ich bis vor kurzem noch auf der anderen Seite des Kontinents gelebt habe.«
    »Das ist kein Grund. Nicht, wenn Sie wirklich fest entschlossen gewesen wären.«
    »Außerdem hat sich nie die richtige Gelegenheit ergeben.«
    Claymore schüttelte den Kopf. »Vielleicht keine Gelegenheit wie die, Bethel Newton zur Falschaussage zu bewegen. Aber das hier … das hätten Sie doch eigentlich jederzeit tun können. Warum jetzt?«
    »Glaubst du wirklich, ich hätte nicht schon hunderte Male davon geträumt?«
    »Aber Sie hatten nicht den Mut?«
    »Falsch. Ich hatte nicht die Wut.«
    »Doch … die nötige Wut hatten Sie. Aber nicht den Mut. Um den in Ihnen zu wecken, musste erst so etwas passieren wie heute im Gerichtssaal.«
    »Was mir bei Gericht widerfahren ist, bedeutet gar nichts.«
    »Nein, aber was Bethel Newton bei Gericht widerfahren ist, bedeutet alles. Weil sie Ihnen ein anderes junges Mädchen in Erinnerung gerufen hat, das Ähnliches durchmachen musste … und diesem Mädchen konnten Sie auch nur bedingt helfen.«
    Der unerbittliche Ausdruck auf Genes Gesicht veränderte sich nicht. »Weißt du, mit dem Schmerz ist es so eine Sache«, sagte sie. »Wunden verheilen irgendwann. Aber die Narben bleiben – und hin und wieder fangen sie an zu jucken.«
    »Und bei Ihnen hat plötzlich das Jucken eingesetzt?«
    »Reden wir lieber über dich, Claymore. Du sagst, du hättest dich verändert und könntest nie mehr einer Frau wehtun. Ich würde ja gern versuchen, dich zu verstehen, aber hast du irgendeine Ahnung, wie schmerzhaft es für Andi war, dich zu verteidigen?«
    »Ich weiß, wie sie gelitten hat. Dass sie nie etwas gesagt hat … das hat mich auch gewundert.«
    »Natürlich hat sie nichts gesagt!«, fuhr ihn Gene wütend an. »Das ist typisch Andi. Sie frisst alles in sich hinein. Aber das ist gar nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass jedes Leid irgendwann ein Ende haben muss.«
    »Ich habe versucht, mich dagegen zu wehren, dass Andi meine zweite Verteidigerin wird. Aber Alex hat darauf bestanden.«
    »Alex ist ein Arschloch. In gewisser Weise ist er auch so etwas wie ein Vergewaltiger. Jedenfalls weiß er, wie er Menschen unter Zwang dazu bringen kann, sich seinem Willen zu beugen. Was ist los?« Sie sah ihn verunsichert an.
    Claymore realisierte, dass ihm ins Gesicht geschrieben stand, was er dachte: Andi hatte genau das Gleiche gesagt.

Mittwoch, 2. September 2009 – 17.20 Uhr
    Du wirst einen hohen Preis dafür zahlen müssen, dass du meinen Plan vereitelt hast. Ich werde Andi umbringen. Ihr Blut klebt an deinen Händen.
    Lannosea
    Sie hatte die SMS gerade fertig geschrieben und tippte nun die Nummer des Empfängers in ihr Handy ein: Alex Sedaka. Aber dann hielt sie nachdenklich inne. Warum er? War es wirklich Alex, dem sie wehtun wollte?
    Alex Sedaka war unwichtig. Wem bedeutete er schon etwas? Jemand anders hatte es viel mehr verdient, verletzt zu werden. Und dieser Jemand besaß eine Schwachstelle: sein Gewissen.
    Sie hatte mal irgendwo gelesen, dass es falsch sei, einen Menschen zu bestrafen, indem man ihm Gewissensbisse einredete, denn die Tatsache, dass dieser Mensch überhaupt ein Gewissen habe, sei schließlich etwas Gutes. Und man wolle einen Menschen ja nicht für seine Tugenden, sondern für seine Laster bestrafen.
    Trotzdem fand sie es logisch, dass man einen Übeltäter bestrafte, indem man seine Schwäche

Weitere Kostenlose Bücher