Späte Schuld
denkst.«
»Das meinte ich nicht.«
»Oh, ich weiß genau, was du meintest. Du hattest einen Verdacht und wolltest dich vergewissern, dass ich nicht … Oh mein Gott, das ist wirklich krank!«
»Ich habe doch nie behauptet, dass … Ich wusste nur nicht, welche Wirkung das, was ich Ihnen angetan habe, auf Ihre Psyche hatte.«
»Ich kann dich jedenfalls beruhigen. Ich habe ihn zur Adoption freigegeben.«
»Aber nicht wegen mir, oder? Ich meine, Sie haben doch vorhin gesagt, dass Sie ihn behalten wollten. Hätten Sie nicht doch irgendwie eine Lösung finden können?«
»Du verstehst mich nicht. Natürlich wollte ich ihn behalten. Und natürlich wollte ich ihn auch lieben. Er war schließlich mein Kind. Als er noch ein schwaches, hilfloses Baby war, habe ich ihn als Teil von mir betrachtet. Aber mit ungefähr zwei Jahren fing er an, sich zu verändern. Seine Gesichtszüge haben sich herausgebildet, und er hat mich immer mehr an dich erinnert. Außerdem war er stur und hatte seinen ganz eigenen Kopf. Ich hatte plötzlich kein Baby mehr vor mir, das mich angelächelt hat, wenn ich es hochgenommen habe, sondern einen eigensinnigen Racker, der ständig seinen Willen durchsetzen wollte. Und da ist alles wieder in mir hochgekommen. Weil er mich an einen anderen Jungen erinnert hat, der nicht erwachsen werden wollte und unbedingt seinen Willen haben musste, egal wie viel Leid er damit angerichtet hat.«
Jetzt hatten sie beide Tränen in den Augen. Claymores Kummer reichte nicht annähernd an Genes Schmerz heran, aber bei ihm kam die Schuld hinzu, die sich wie ein Dolch in seine Eingeweide bohrte.
»Sie haben ihn also hergegeben, obwohl Sie bereits eine Bindung zu ihm aufgebaut hatten?«, fragte er angespannt.
»Ja!«, antwortete Gene mit tränenerstickter Stimme.
»Aber Sie haben ihn doch geliebt.«
»Natürlich habe ich ihn geliebt!« Jetzt schluchzte sie sogar noch heftiger, als sie es vor Gericht getan hatte. Aber sie hielt ihre Pistole nach wie vor auf Claymore gerichtet.
»Und damit mussten Sie all die Jahre leben?«
»Ja.«
Er beugte sich vor. »Ich kann Ihnen helfen, wenn Sie mich nur lassen.«
Er wollte aufstehen, hielt aber mitten in der Bewegung inne, weil sie die Pistole hob und auf sein Gesicht zielte.
»Ich brauche deine Hilfe nicht! Ich komme gut allein damit klar.«
»Hören Sie … mir steht es am allerwenigsten zu, Ihnen Hilfe anzubieten, das weiß ich. Aber Sie haben vorhin gesagt, dass Sie Ihren Schmerz all die Jahre in sich hineingefressen haben. Sie müssen ihn endlich rauslassen und zur Ruhe kommen.«
»Ich habe aber nicht von mir gesprochen!«, schrie sie hysterisch. »Als ich dich gefragt habe, ob du weißt, wie es ist, alles in sich hineinzufressen, meinte ich nicht mich!«
»Wen dann?«, stammelte er ratlos.
»Ich meinte die andere Frau, die sich nicht gemeldet hat, nachdem du sie vergewaltigt hattest! Ich meinte Andi!«
Mittwoch, 2. September 2009 – 17.45 Uhr
Pazifische Sommerzeit
(20.45 Uhr Östliche Sommerzeit)
Bethel Newton war auf dem Weg nach Hause.
Sie stieg mittags um zwölf ins Flugzeug und landete fünf Stunden und fünfundzwanzig Minuten später auf dem Miami International Airport. Sie hatte so gut wie alles, was sie an ihren kurzen Aufenthalt in Kalifornien erinnerte, weggeworfen und hatte daher nur ein Handgepäckstück bei sich.
Ihre Familie wusste, dass sie kam. Im Taxi zum Flughafen von Los Angeles hatte Bethel eine SMS geschrieben, aber sie hatte keine Ahnung, wie ihre Familie sie empfangen würde. Für den Flug war fast ihr ganzes restliches Geld draufgegangen, aber sie hatte nicht den Mut aufgebracht, vorher zu Hause anzurufen. Auf ihre SMS hatte sie keine Antwort erhalten.
All dies ging ihr im Kopf herum, während sie an der Gepäckausgabe vorbei zum Ausgang ging.
»Bethel, Schatz!«, rief eine Frauenstimme. »Hier drüben!«
Sie drehte sich um und entdeckte ihre Mutter, eine mollige Neununddreißigjährige. Und sie war nicht allein. Auch ihr Stiefvater Jack, ihre zwölfjährige Schwester Judy und ihr zweijähriger Bruder Benny waren da.
Bethel Newton schossen Tränen in die Augen, während sie ihre Familie in die Arme schloss.
Mittwoch, 2. September 2009 – 18.00 Uhr
Genes Worte hatten Claymore sprachlos gemacht. Nur langsam sickerte ihre Bedeutung zu ihm durch. Geahnt hatte er es schon lange – eigentlich schon seit der ersten Besprechung mit ihr und Alex im Untersuchungsgefängnis. Aber er war sich nicht sicher gewesen. Und sie hatte keinen
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