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Späte Schuld

Späte Schuld

Titel: Späte Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Kessler
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angriff. Und wenn diese Schwäche sein Gewissen war, dann war es eben so. Wenn jemand kein Gewissen besaß, musste man allerdings zu anderen Mitteln greifen, aber wozu mehr Gewalt anwenden als notwendig?
    Und falls Claymore tatsächlich ein Gewissen hatte, durfte er es nicht verleugnen. Wie sollte es ihn sonst zu einem besseren Menschen machen? Für seine Opfer war dieses Gewissen nur etwas wert, wenn es von Selbsterkenntnis geplagt wurde und kein nutzloses Anhängsel blieb.
    Also löschte sie Alex Sedakas Nummer wieder und ersetzte sie durch die von Elias Claymore. Aber bevor sie auf Absenden drückte, kamen ihr erneut Zweifel.

Mittwoch, 2. September 2009 – 17.30 Uhr
    »Weißt du, wie weh es tut, das alles in sich hineinzufressen?«, fragte Gene, die die Pistole immer noch seitlich am Körper hielt und auf Claymores Brustkorb richtete. Sie hatte ihm befohlen, sich aufs Sofa zu setzen, weil er dort keine Dummheiten machen konnte. Er saß also vor dem Fernsehbildschirm und war gezwungen, den Kopf zu drehen, wenn er sie ansehen wollte.
    »Deshalb verstehe ich es umso weniger. Warum hat sich die Wut nicht schon viel früher Bahn gebrochen? Warum erst jetzt?«
    »Wahrscheinlich, weil man es sich selbst schuldig ist weiterzuleben. Nur so konnte ich überhaupt die Schwangerschaft durchstehen.«
    Er war verwirrt. »Welche Schwangerschaft?«
    »Du wusstest es also nicht.« Sie ließ ein paar Sekunden lang den Blick auf ihm ruhen und nahm seinen verständnislosen Gesichtsausdruck mit einer Mischung aus Wut und Verachtung zur Kenntnis. »Als du mich vergewaltigt hast, bin ich schwanger geworden.«
    Für einen Moment war er völlig vor den Kopf geschlagen. Aber er brauchte Gewissheit: »Haben Sie …?«
    »Ob ich abgetrieben habe? Das konnte ich nicht.«
    »Warum nicht? Das war doch nach dem Abtreibungsurteil Roe gegen Wade .«
    »Das meinte ich damit nicht.«
    »Niemand hätte Ihnen einen Vorwurf machen können.«
    »Nicht mal wiedergeborene christliche Fundamentalisten wie du?«
    »In der Bibel steht: ›Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet‹«, sagte er und schlug beschämt die Augen nieder. »Und ich bin der Letzte, der über andere zu Gericht sitzen dürfte … Warum haben Sie nicht abgetrieben? Konnten Sie es sich nicht leisten?«
    »Oh, das wäre schon gegangen. Für solche Fälle gibt es Hilfsorganisationen, die einspringen und helfen. Im Gegenteil: Ich konnte es mir eigentlich nicht leisten, nicht abzutreiben, weil ich zum damaligen Zeitpunkt kaum Berufserfahrung hatte und nicht genug verdient habe für ein Baby. Aber ich habe es nicht über mich gebracht.«
    »Obwohl das Baby von mir war?«
    »Du meinst, obwohl es das Ergebnis einer Vergewaltigung war?«
    »Ja«, brachte er mühsam hervor.
    »Verstehst du denn nicht, dass das gar keine Rolle gespielt hat? Das Baby war auch von mir. Und wenn ich es in mir gespürt habe, habe ich nicht an dich gedacht. Für mich war es ein …« Tränen schossen ihr in die Augen. »Ich weiß auch nicht. Ich konnte es einfach nicht töten. Das Baby war ein Symbol für das Leben, und wenn ich weiterleben wollte, was ich mir fest vorgenommen hatte, musste ich auch das Baby am Leben lassen. Ich wusste natürlich nicht, wie ich ihm gegenüber nach der Geburt empfinden würde, aber solange es noch in mir drin war, konnte ich es einfach nicht zerstören. Und als ich ihn dann in den Armen hielt, war er so schwach und verletzlich. Es war meine Aufgabe, ihn zu beschützen.«
    »Wo ist er jetzt?«
    »Ich musste ihn loswerden.«
    »Aber Sie haben doch gerade gesagt …«
    »Ich habe gesagt, dass ich es nicht über mich gebracht habe, ihn abzutreiben. Nach der Geburt habe ich versucht, ihn allein großzuziehen, aber das war hart. Alle haben mir gesagt: Such dir einen Mann, egal wie er aussieht. Such dir einen hässlichen, einsamen Mann, der die Taschen voller Geld hat und ein einsames Herz. Dann sorgt er für dich und verlässt dich nicht. Genau das haben mir meine Freundinnen geraten. Und vielleicht hatten sie ja recht. Aber ich war noch nicht bereit dazu, mich wieder den Händen eines Mannes auszuliefern. Ich war auf der Suche nach einer verwandten Seele, mit der ich mein Leben teilen konnte. Auch schon vor der Vergewaltigung.«
    »Sie beziehen sich auf Ihre sexuelle Neigung?«
    »Wenn du es so nennen willst.«
    »Aber was meinten Sie damit, dass Sie ihn … loswerden mussten?«
    »Glaubst du etwa, ich hätte ihn …? Nein, so krank kannst nicht einmal du sein, dass du das

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