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Späte Schuld

Späte Schuld

Titel: Späte Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Kessler
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revidieren. Es handelt sich hier gewiss um einen außergewöhnlichen Fall, aber ich bin nun mal verpflichtet, die Vergangenheit des Angeklagten als Justizflüchtling zu berücksichtigen. Aus diesem Grund kann ich leider keine Freilassung auf Kaution gewähren.«
    Zähneknirschend nahm Alex die ablehnende Entscheidung entgegen. Claymore traf sie besonders hart, weil er immer noch im Untersuchungsgefängnis von Ventura inhaftiert war. Um zur heutigen, nur zehn Minuten dauernden Verhandlung zu erscheinen, hatte er sechshundert Kilometer und sechs Stunden im Polizeitransporter auf sich nehmen müssen.
    »Wenn das so ist, Euer Ehren, schlage ich vor, dass der Angeklagte in die Santa-Ritter-Haftanstalt in Alameda County verlegt wird.«
    »Wird hiermit angeordnet. Nun zum Gerichtstermin. Da am 26. Juni Anklage erhoben wurde, muss der Prozess bis zum 25. August begonnen haben. Ich sehe gerade, dass Richterin Ellen Wagner zwischen 17. August und 4. September noch Platz in ihrem Terminkalender hat. Gerichtssaal sieben. Genügt diese Zeitspanne für den Prozess?«
    »Ja, Euer Ehren«, sagte Alex nickend.
    »Ja, Euer Ehren«, bestätigte auch Sarah Jensen.
    »Dann setze ich den Prozess für diesen Zeitraum an. Die Vorvernehmung der Geschworenen beginnt am 17. August.«

Mittwoch, 15. Juli 2009 – 15.15 Uhr
    Elias Claymore sah sich nervös um, als er in seinen Gefängnistrakt gebracht wurde. Er hatte die Untersuchungshaft in Ventura überlebt, aber hier war er wieder der Neue. Er fragte sich, ob es hier genauso ablaufen würde.
    Während er den Gang entlangging, überlegte er hin und her: Sollte er den Kopf senken, um ja niemanden gegen sich aufzubringen, oder sollte er ihn im Gegenteil hochhalten, um zu signalisieren, dass er kein Opfer war?
    Er entschied sich für die zweite Variante und stellte überrascht fest, dass ihm einige seiner Mithäftlinge sogar zujubelten. Ein vielversprechendes Zeichen. Aber ein Gefängnis blieb ein Gefängnis. Dass er mit Haftanstalten vertraut war, machte es auch nicht angenehmer. Er hatte sich nie an den Alltag hinter Gittern gewöhnen können, und in den letzten Jahren hatte er sogar ein Leben im Luxus geführt.
    Aber der vergangene Monat hatte ihm die Brutalität des Gefängnisdaseins wieder in Erinnerung gerufen. Und in vielerlei Hinsicht war es dieses Mal noch schlimmer. Damals war er ein Held gewesen – zumindest in den Augen seiner Brüder. Er war ein Freiheitskämpfer gewesen, der sich dem Feind widersetzt hatte. Aber jetzt spürte er nur Feindseligkeit und konnte auf niemanden mehr zählen. Durchs Gefängnis bewegte er sich daher mit äußerster Vorsicht.
    Der bevorstehende Prozess machte ihm Angst. Alex war zwar ein guter Anwalt, aber die Beweislage gegen ihn war erdrückend. Und Claymore befürchtete, dass ihm Alex seine Unschuldsbehauptung nicht abnahm. Seine Gedanken kreisten nur noch um den Prozess. Um nicht an die Zukunft denken zu müssen, flüchtete er sich in die Vergangenheit, aber die war sogar noch schmerzhafter. Denn er hatte nicht nur eine schwierige Kindheit gehabt, sondern erinnerte sich auch ungern an seine Zeit als junger Erwachsener. Damals war er vom Opfer zum Täter geworden.
    Er dachte daran zurück, wie er ganz am Anfang seines Rachefeldzugs einer weißen Frau nach Hause gefolgt war und sich gewaltsam Zutritt zu ihrer Wohnung verschafft hatte, indem er die französischen Fenster eingeschlagen hatte. Sie hatte geschrien, als er auf sie zugekommen war und die Hand über ihren Mund gelegt hatte. Er hatte sie aufs Sofa geworfen und ihr die Kleider vom Leib gerissen. Dann hatte er sie vergewaltigt.
    Ihr Flehen und ihre Schreie waren aus seiner Erinnerung verschwunden. Er hörte nur die Schreie seiner Mutter, und selbst die wurden von etwas anderem übertönt, nämlich den selbstgefälligen Stimmen der Hörer, die beim Radiosender angerufen hatten, als dort die Vergewaltigung seiner Mutter diskutiert worden war. Ein Anrufer nach dem anderen hatte behauptet, die »schwarze Frau« würde »lügen« und sei »wahrscheinlich nur eine Nutte, die ihr Geld nicht gekriegt habe«. Er sah die skeptischen Gesichter des Studiopublikums vor sich, während ein linksliberaler Anwalt in einer Fernsehsendung versucht hatte, den Ruf seiner Mutter zu verteidigen. Und er erinnerte sich, dass nicht nur Männer beleidigende Kommentare über seine Mutter abgegeben hatten, sondern auch weiße Frauen , die mit ihren arroganten, scheinheiligen Mittelschichtstimmen behauptet hatten, diese Frau

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