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Späte Schuld

Späte Schuld

Titel: Späte Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Kessler
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verfolgt wurden. Das konnten auch noch so viele Ausflüchte und faule Ausreden des reichen Nordens nicht ändern.
    Viele dieser schwarzen Südsudanesen waren Christen und wurden aus religiösen und nicht aus rassistischen Gründen verfolgt. Was sollte das?, hatte er gedacht. Hatten sie nicht ein Recht auf ihren Glauben? Machte es einen Unterschied, dass ihre Unterdrücker sie ihrer Religion und nicht ihrer Hautfarbe wegen zu Bürgern zweiter Klasse erklärten? Unterdrückung blieb Unterdrückung, und wenn er nicht bereit war, Unterdrückung in Amerika zu dulden, warum dann hier in der Dritten Welt?
    Je mehr er sich mit den schwarzen Christen im Süden des Sudan unterhalten hatte, desto mehr hatte er über ihre Kultur und ihre Ansichten gelernt und desto klarer war ihm geworden, dass er einer Täuschung aufgesessen war. Man hatte ihm vorgegaukelt, das Christentum sei die Religion der Unterdrücker und der Islam die einzig wahre Religion des schwarzen Mannes. Aber hier sah er nun die Kehrseite der Medaille. Und auch Amerika hatte sich verändert. Welche Fehler es auch in der Vergangenheit begangen haben mochte, das Land wuchs und lernte daraus. Und in Claymores Augen hatte der amerikanische Weg zumindest eine Zukunft.
    Früher hatte er immer gesagt, dass Gleichgültigkeit unmöglich sei: Entweder war man Teil des Problems oder Teil der Lösung. Aber wenn er nun seine Heimat betrachtete – seine ursprüngliche Heimat Amerika –, erkannte er, dass mehr und mehr Menschen Teil der Lösung wurden. Die ersten Anzeichen hatte er bereits in den Sechzigern gesehen, als es Freiheitskämpfer sämtlicher Hautfarben gegeben hatte. Und jetzt erkannte er diese Anzeichen in den jungen Wählern, die sich politisch Gehör verschafften. Aber auch in banaleren Bereichen. Derselbe frische Wind, der einst den Kolonialismus aus Afrika vertrieben hatte, vertrieb nun die Rassendiskriminierung aus Amerika.
    Natürlich gab es immer noch Ungerechtigkeiten, aber es gab auch Widerstand. Natürlich gab es immer noch Leid, aber es gab auch Hoffnung. Natürlich waren noch die Nachwirkungen vergangener Ungerechtigkeiten zu spüren, aber auch die würde der Wind davonwehen, solange die Menschen sich zusammenschlossen und nicht nachließen in ihren Bemühungen.
    Nachdem er in eine fremde Wüste gezogen war, um die Wahrheit zu finden – eine Wahrheit, die er beinahe übersehen hätte –, erblickte also ein neuer Elias Claymore das Licht der Welt und fand das Glück genau dort, wo alles seinen Anfang genommen hatte: vor der eigenen Haustür.
    Nach drei einsamen Jahren im Exil kehrte der Prophet, der bisher nur Hass und Streit gepredigt hatte, nach Hause zurück.

Montag, 17. August 2009 – 10.00 Uhr
    »Das kalifornische Kammergericht von Alameda County beginnt mit seiner Sitzung; den Vorsitz hat die ehrenwerte Richterin Wagner. Jeder, der etwas vorzubringen hat, möge vortreten und soll erhört werden. Gott schütze dieses Gericht und die Vereinigten Staaten von Amerika!«
    Richterin Ellen Wagner – eine der dienstältesten Richterinnen des Kammergerichts – nahm ihren Platz in Gerichtssaal sieben des Rene-C.-Davidson-Gerichtshofs in Oakland ein, und die restlichen Prozessteilnehmer folgten ihrem Beispiel. Ellen Wagner war etwa Mitte sechzig und eine imposante Afroamerikanerin mit Brille, die aus jeder Pore Erhabenheit und Würde atmete. Sie war eine Veteranin der Bürgerrechtsbewegung und hatte sich als junge Frau in den sechziger Jahren an den »Freedom Rides« beteiligt und dafür Drohungen und sogar Prügel erdulden müssen. Zusammen mit einer Viertelmillion Mitstreiter hatte sie auf der National Mall in Washington D.C. gestanden, als Martin Luther King seine unsterbliche »I have a dream«-Rede gehalten hatte.
    Ihr politisches Bewusstsein hatte mit dem Brown-Urteil von 1954 seinen Anfang genommen, als der Oberste Gerichtshof entschieden hatte, dass Rassentrennung in öffentlich finanzierten Schulen verfassungswidrig sei. Als frühreife Elfjährige hatte sie den Fall aufmerksam verfolgt, ermutigt von ihrer Tante, die ihr das Lesen beigebracht hatte. Begeistert hatte sie auf deren Veranda gesessen und sich die schwierigen Begriffe der eloquenten Argumentation des Bürgerrechtsanwalts Thurgood Marshall erklären lassen.
    Dreizehn Jahre später war Marshall von Präsident Lyndon Johnson zum ersten afroamerikanischen Richter am Obersten Gerichtshof ernannt worden, und ein Jahr danach hatte sich Ellen Wagners Kindheitstraum erfüllt, und sie hatte

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