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Späte Schuld

Späte Schuld

Titel: Späte Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Kessler
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klingelte. Juanita kündigte an, dass das Santa-Ritter-Gefängnis am Apparat sei, und stellte den Anruf zu Alex durch.
    »Hallo, Elias.«
    »Wie bitte?«, fragte eine unbekannte Stimme.
    »Oh, entschuldigen Sie«, erwiderte Alex. »Ich dachte, Sie seien mein Mandant.«
    »Hier spricht der stellvertretende Leiter des Santa-Ritter-Gefängnisses. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Mandant Elias Claymore niedergestochen wurde.«
    »Niedergestochen?«
    »Ja, aber er hat überlebt und befindet sich inzwischen im Gefängniskrankenhaus.«
    »Wie ist das passiert?«
    »Die übliche Geschichte … ein Mithäftling mit einem selbstgebastelten Messer.«
    Alex war überrascht, dass so etwas als üblicher Vorgang eingestuft wurde. »Wie ernst ist sein Zustand?«
    »Ziemlich ernst. Der Stich ging in die Leber. Er wird immer noch operiert, aber es sieht so aus, als würde er durchkommen.«
    Alex seufzte erleichtert auf. »Haben Sie den Attentäter erwischt?«
    »Noch nicht, aber unser Gefängnis ist videoüberwacht, wir werden uns also die Bänder ansehen.«
    »Gut. Was für Sicherheitsvorkehrungen haben Sie für meinen Mandanten getroffen?«
    »Wir haben Wachpersonal vor dem Aufwachraum aufgestellt und behalten ihn bis zum Prozess in bewachter Einzelhaft.«
    Bis zum Prozess.
    Alex wurde die ganze Tragweite dieser Worte bewusst. Sollte Claymore schuldig gesprochen werden, war es mit der Isolationshaft vorbei. Dann würde er zwar vermutlich in ein anderes Gefängnis überstellt werden, musste dort jedoch mit den normalen Insassen zusammenleben. In diesem Fall ging es also nicht mehr nur um die Freiheit seines Mandanten: Wenn Alex keinen Freispruch für ihn erwirkte, war Elias Claymores Leben keinen Pfifferling mehr wert.

Donnerstag, 16. Juli 2009 – 16.20 Uhr
    Als er die Augen öffnete, wusste er zunächst nicht, wo er war. Er sah nichts als weiße Wände und versuchte sich zu besinnen. Das Letzte, woran er sich erinnern konnte, war, wie er über sein früheres Leben und seine Verbrechen nachgegrübelt hatte. War er immer noch im Gefängnis, weil er Frauen vergewaltigt hatte? War alles nur ein Traum gewesen, und er war nie entlassen worden? Oder war er geflohen?
    Er hatte Mühe, sein Leben zu rekonstruieren.
    Als junger Mann war er Mitglied mehrerer Gruppierungen der Black-Power-Bewegung gewesen und hatte sie in ihrem Freiheitskampf unterstützt. Nachdem er eine einjährige Haftstrafe wegen unerlaubten Waffenbesitzes abgesessen hatte, war er wütender denn je in die Freiheit entlassen worden und hatte im Laufe der darauffolgenden zweieinhalb Jahre fünf weiße Frauen vergewaltigt, nachdem er seine Methode zunächst an drei schwarzen Frauen getestet hatte.
    Inzwischen betrachteten ihn seine Brüder eher als Klotz am Bein denn als Verbündeten, und es wurde gemunkelt, dass es einer von ihnen gewesen war, der sein Versteck an das FBI verraten hatte. Er würde den Tag, an dem ihn die FBI-Beamten geholt hatten, nie vergessen. Als er die flackernden Blaulichter und das riesige Aufgebot an Gesetzeshütern gesehen hatte, das zu seiner Ergreifung abgestellt worden war, hatte er sofort begriffen, dass es kein Entrinnen gab. Aber er hatte keine Angst empfunden, nur blinde Wut.
    Kurzzeitig erwog er, kämpfend zu sterben und so viele von diesen Schweinen mit in den Tod zu reißen, wie er konnte. Er rechnete ohnehin damit, dass man ihn im Gefängnis um die Ecke bringen würde, während die Wärter diskret wegsahen. Warum sollte er also nicht hier und jetzt sein letztes Gefecht antreten? Aber dann ging ihm auf, dass ihm schon ein einziger Tag vor Gericht genau das verschaffte, was ihm die »freie Presse« des weißen Mannes bis heute verweigerte: eine Plattform, von der er zu den Menschen sprechen und seine Botschaft verkünden konnte.
    Er wurde verhaftet, der sechsfachen Vergewaltigung angeklagt und zu neun Jahren Haft verurteilt. Schon nach einem Jahr hinter Gittern gelang ihm im Zuge einer Gefängnisrevolte die Flucht, wobei ihn eine Gruppierung unterstützte, die nicht auf säkulare Revolution aus war, sondern ihre Thesen aus einer die Rassentrennung befürwortenden Auslegung des Islam bezog.
    Aber drei Jahre in Libyen und im Sudan machten all seine Illusionen zunichte. In Libyen wurde er Zeuge von Korruption und Doppelmoral, bis das Gerücht aufkam, die amerikanische Regierung wolle ihn kidnappen, und er in den Sudan weiterzog. Dort musste er miterleben, wie die Schwarzen im Süden des Landes als Bürger zweiter Klasse behandelt und

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