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Späte Schuld

Späte Schuld

Titel: Späte Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Kessler
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Gene unangekündigt in ihrem Hotelzimmer aufgetaucht war, hatte sie vor Freude gestrahlt, aber der Stress und die Belastung des Prozesses forderten allmählich ihren Tribut.
    »Die Richterin unternimmt erst etwas dagegen, wenn wir ihr beweisen können, dass die Geschworenenauswahl absichtlich manipuliert wurde«, fuhr Andi mit ihrer Schilderung fort. »Daher hoffe ich natürlich, dass wir nicht einfach nur einen unbeabsichtigten Defekt in der Software finden, der die Anzahl von Afroamerikanern in den Kandidatenpools reduziert.«
    In stillschweigendem Einvernehmen setzten sich Andi und Gene darüber hinweg, dass sie eigentlich nicht miteinander über den Fall sprechen durften. Gene war schließlich nicht mehr involviert, da ihr nach wie vor jeder Kontakt mit Bethel untersagt war.
    »Aber dann hilft es wenigstens für die Zukunft«, tröstete Gene sie.
    »Ja, aber nicht mehr für unseren Fall.«
    »Davon darfst du dir nicht den Schlaf rauben lassen. Das hat Claymore wirklich nicht verdient.«
    »Aber er ist nun mal unser Mandant, und ich habe die Pflicht, ihn bestmöglich zu vertreten.«
    »Dann vertrete ihn bestmöglich. Aber zerbrich dir nicht den Kopf, wenn die Richterin eurer Argumentation nicht folgt. Indem du deine Argumente und Beweise vorlegst, hast du ihn ja schon bestmöglich vertreten. Der Rest liegt nicht in deiner Hand.«
    »Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass ständig meine Integrität auf die Probe gestellt wird.«
    Genes Hände hörten plötzlich auf, Andis Schultermuskulatur zu bearbeiten. » Du stehst hier aber nicht vor Gericht, Andi, sondern Elias Claymore. Die einzige Verpflichtung, die ihr Claymore gegenüber habt, ist, als Anwälte euer Bestes zu geben.«
    »Aber woher soll ich denn wissen, ob ich mein Bestes gebe?«
    »Den Fernsehberichten über den Prozess nach zu schließen, tust du weit mehr als nur deine Pflicht.«
    »Warum habe ich dann das Gefühl, dass uns der Fall entgleitet?«
    »Vielleicht, weil du nicht bestimmen kannst, wie es ausgeht.«
    Andi drehte leicht den Kopf. »Wie meinst du das?«
    Genes Stimme wurde überraschend sanft: »Ist dir noch nie der Gedanke gekommen, dass er schuldig sein könnte?«
    »Doch. Aber ich denke – und als Anwältin weiß ich, dass ich mit dem Kopf denken muss und nicht mit dem Herzen –, dass er unschuldig ist.«
    »Bist du dir sicher, dass das nicht nur Wunschdenken ist?«
    Andi rollte sich abrupt auf den Rücken, setzte sich hin und stellte die Füße auf den Teppich. Sie wirkte völlig gedankenversunken.
    »Kommst du nicht ins Bett?«, fragte Gene.
    »Später. Ich habe heute noch nicht meine E-Mails gelesen.«
    Andi stand auf und ging zum Schreibtisch hinüber, wo sie ihren Laptop einschaltete und sich ins Intranet von Levine und Webster einloggte, um ihre E-Mails abzurufen. Sie hatte nur eine neue Nachricht, aber als sie sie öffnete, wurde sie wieder von Angst und Wut überwältigt. Auf dem Bildschirm erschien folgender Text:
    Du hilfst also immer noch diesem schleimigen Nigger und Vergewaltiger. Dadurch jagst du deinen eigenen Schwestern einen Dolch in den Rücken. Du hast Blut an den Händen!
    Lannosea
    Zunächst betäubte die Wut alle anderen Gedanken in Andi, aber dann ging ihr auf, dass sie nie ernsthaft versucht hatte herauszufinden, wer Lannosea war. Sie wusste nur, dass Lannosea eine Tochter der alten britannischen Königin Boudicca gewesen war. Aber warum sollte jemand diesen Namen wählen?
    Andi war fest entschlossen, mehr in Erfahrung zu bringen. Sie tippte »Boudicca« in die Suchmaschine und las den Wikipedia-Eintrag. Darin wurden die Namen der Töchter nicht erwähnt, aber es wurde beschrieben, wie die Römer das Reich von Boudiccas Mann Prasutagus – einem Vasallen Roms – nach dessen Tod an sich rissen, Boudicca auspeitschten und ihre Töchter vergewaltigten.
    Ihre Töchter vergewaltigten?
    Das war es also! Lannosea war auch ein Vergewaltigungsopfer – vielleicht sogar eins von Claymores.
    Plötzlich sah alles ganz anders aus, weil Andi klar wurde, dass sie nicht von einem bösartigen, von Hass getriebenen Wesen beschimpft wurde, sondern von einem Opfer, das die Wut auf den Täter blind machte.
    Und ein Opfer konnte sie nicht hassen.
    Sie versuchte sich einzureden, dass sie nur ihre Pflicht tat. Wenn sie einen Fall übernahm, musste sie auch ihr ganzes berufliches Können dafür einsetzen. Aber das klang wie die erbärmliche Ausrede einer Opportunistin, die ihr Gewissen für schnelles Geld oder ein bequemes Leben

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