Später Frost: Der erste Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
aussahen. Sie nahm einen Band aus dem Regal. Der Einband war aus edlem Karton. Ein paar Schriftzeichen, ähnlich denen im Wohnzimmer, zierten den Umschlag. Sie hielt ihn gegen das Licht. Das Buch war mit Hand bemalt worden, zwei rote Mohnblumen umschlangen den Titel: Calligraphie. A comprehensive guide . Forss stellte es wieder in die Vitrine und schob die Scheibe zurück.
Sie suchte weiter das Regal ab. Bücher über antike Städte und Stätten standen da. Athen, Rom, Jerusalem, Pompeji. Dann schwedische Literatur. Vilhelm Moberg, Karin Boye, Tomas Tranströmer – das sagte ihr alles wenig. Aber dann blieb ihr Blick an einem Buch hängen, das sie gut kannte: Nils Holgersson von Selma Lagerlöf. Ihr Vater hatte ihr daraus vorgelesen, als sie klein war, später hatte sie dann auch die Zeichentrickserie im Fernsehen gesehen.
Sie setzte sich auf den Drehstuhl und zog die oberste Schreibtischschublade heraus. Ordner mit Zahlen, Rechnungen und etwas, das wohl eine handgeschriebene Buchführung war. Soweit sie die Sachen verstand, ging es um den Handel mit Wertpapieren. Sie sah bei einigen Blättern aufs Datum. Die ältesten Unterlagen waren aus den Fünfzigerjahren. Sechziger, Siebziger, bis in die Achtzigerjahre gab es Material. Dann war Schluss. Sie legte die Unterlagen auf den Schreibtisch. Darum sollte sich jemand anderes kümmern. Danach ging sie ins Schlafzimmer. Es lag über dem Wohnzimmer, war geräumig und hatte große, helle Fenster. An der Wand stand ein klobiges Doppelbett aus dunklem Holz, rechts und links von Nachttischen flankiert. Gegenüber ein großer, alter Kleiderschrank. Das Schlafzimmer roch nach Alter, Schlaf und Lavendel, nicht unangenehm, eher beruhigend. Neben dem Kleiderschrank stand eine Schminkkommode. Auf ihr ruhte ein stattlicher Spiegel, in Holz gefasst, das gleiche dunkle Holz wie das Bett, der Kleiderschrank und die Kommode. Vor dem Spiegel stand eine Waschschüssel aus Emaille, die einmal weiß gewesen sein musste, aber mittlerweile Patina angesetzt hatte.
Sie zog die oberste Schublade der Kommode auf. Da lagen Haarbürsten in unterschiedlichen Größen, ein Parfümzerstäuber aus dunkelrotem Glas, eine Sammlung Puderdöschen. Alles bedeckt von einer feinen Staubschicht. Es sah aus wie in einem Museum.
Sie nahm den Zerstäuber und drückte auf den Knopf. Nichts passierte. Sie schüttelte ihn und versuchte es noch einmal. Jetzt ging er. Sie sprühte etwas auf ihr Handgelenk und roch daran. Nicht ihr Geschmack, aber definitiv nicht billig. Altmodisch. Ein Damenduft, vielleicht Chanel. Möglicherweise war es das, was sie an der Strickjacke an der Garderobe gerochen hatte.
In den anderen Schubladen lagen Schatullen mit Schmuck, Fläschchen und Flakons mit Nagellack, diverse flache, dicke, breite und dünne Dosen, die Cremes und Make-up enthielten. Forss öffnete den Kleiderschrank. Sie fuhr mit dem Zeigefinger über die Bügel, an den Fächern vorbei. Anzüge, Hemden, Jacketts, Pullover. Und dann: Kleider, Röcke, Seidenblusen, Strumpfhosen. Feine Stoffe, rot, dunkelrot, altrosa, blumige Muster der Sechziger und Siebziger. Eine erlesene, aber veraltete Damen-Gaderobe. Sachen, die manin Mitte und im Prenzlauer Berg in Secondhandshops fand.
Nyström hatte gesagt, Balthasar Frost sei alleinstehendgewesen und habe hier allein gewohnt, aber vielleicht war das nicht immer so gewesen. Sie schloss den Kleiderschrank und ging in das Badezimmer. Über dem Waschbecken hing ein Spiegelschrank. Auf dem Brett darunter stand eine kleine Armee von Fläschchen und Döschen: Rasierwasser, Rasierschaum, Anti-Aging-Cremes, Lidschatten, Kajalstifte, Lippenstift. In einem Hängeregal neben dem Fenster lagen Lockenwickler. Manche Sachen schienen Jahre oder Jahrzehnte alt zu sein und waren sehr lange nicht mehr benutzt worden. Sie nahm sich einen Lippenstift, ging zum Fenster und hielt ihn ins Licht. Er trug eine französische Aufschrift, das Preisschild klebte noch daran. Neunundvierzig Francs.
Sie ging zurück zum Waschbecken und öffnete den Spiegelschrank. Die Hausapotheke. Sie durchsuchte die Medikamente. Nichts erregte ihre Aufmerksamkeit. Die Verfallsdaten auf den Verpackungen waren in den meisten Fällen längst abgelaufen.
Sie fand Nyström im Wohnzimmer. Die Hauptkommissarin blätterte in einem Fotoalbum. Forss hielt ihr den Lippenstift aus Frankreich hin.
»Frost lebte allein?«
»Ja. Oder nicht?«
»Heute vielleicht schon. Früher aber wohl eher nicht. Schau dir mal das Schlafzimmer oben an
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