Später Frost: Der erste Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
ab. Vertrocknete Birkenblätter, Erdkrümel, Sandkörner. Dort, in der Ecke blitzte im Schein der Taschenlampe etwas auf. Sie fischte den Gegenstand hervor. Es war ein verrosteter Kronkorken, der dort schon jahrelang gelegen haben musste. Sie seufzte. Außer der freigewischten Scheibe wies nichts auf einen Besucher hin. Aber immerhin war es eine Möglichkeit gewesen. Sie drehte sich aus dem feuchten Sitz und tastete mit ihrem Fuß nach der obersten Stufe des Einstiegs. Als sie den letzten Schritt abwärts gemacht hatte, sah sie etwas unter dem Sitz schimmern. Mit einer Hand fischte sie danach, zog es mit zwei Fingern vorsichtig hervor und hielt es ins Licht.
Es war eine Art Origami-Kunstwerk. Ein kleiner, kunstvoll gefalteter Würfel mit einer Kantenlänge von gerade einmal zwei Zentimetern. Das Papier war dünn wie Zigarettenpapier und hellrosa. Aber es gab auch dunklere Stellen, als ob es von der anderen Seite bedruckt wäre. Stina drehte und wendete den Würfel vorsichtig. Jetzt erkannte sie Zahlen und Buchstaben. Das fragile Gebilde war aus einem Parkschein gefaltet worden.
2
Als Ingrid Nyström in die Auffahrt des Krankenhauses einbog und ihren kleinen Toyota vor der pathologischen Abteilung zum Stehen brachte, sah sie Ann-Vivika Kimsel in einem der Lichtkegel der Außenbeleuchtung stehen und rauchen. Die kleine, schlanke Frau trug die mintfarbene Dienstkleidung des Krankenhauspersonals und hatte sich als einzigen Schutz gegen die Kälte einen grob gestrickten Schal um den Hals geschlungen; ihren Mundschutz hatte sie bis auf die Stirn hochgeschoben, was von Weitem so aussah, als würde sie ein Partyhütchen tragen. Sie hatten beruflich seit vielen Jahren miteinander zu tun. Ann-Vivika Kimsel war nach langer Ehe geschieden und lebte allein, ihr Sohn war mit Nyströms Tochter Sophie in dieselbe Gymnasialklasse gegangen.
Nyström begrüßte sie mit einer Umarmung.
»Sag mal, frierst du nicht hier draußen?«
Kimsel deutete mit ihrem Kinn auf die Zigarette, die sie mit ausgestrecktem Arm von sich weghielt.
»Ja, tue ich. Aber darum geht’s auch. Ich bezahle für meine Sünden gerne sofort. Eine Zigarette kostet drei Vaterunser. Oder einmal Frieren. Verdammte Dinger!«
Sie stieß den Rauch spitz zwischen ihren geschminkten Lippen aus. Nyström fand, dass der dunkle Rotton gut zu Ann-Vivikas schwarzen Haaren passte. Und dem Partyhut. Sie selber war nicht sehr geschickt in solchen Dingen, deshalb verzichtete sie meistens gleich ganz darauf.
»Hast du die Nacht durchgearbeitet?«
Kimsel nickte knapp.
»Ich weiß. Ich habe Augenringe wie ein Pandabär. Komm, lass uns reingehen, dann erzähle ich dir alles.«
Sie nahm einen letzten Zug von der Zigarette, drückte sie in einem kleinen, verschließbaren Taschenaschenbecher aus und ließ diesen in einer Tasche ihres Kittels verschwinden.
»Ich sollte es wirklich besser wissen.«
»Es gibt jetzt Plastikzigaretten, die Nikotin abgeben. Zur Entwöhnung«, sagte Nyström.
Kimsel lachte. Das tiefe Lachen einer langjährigen Raucherin. Sie hielt der Freundin die Tür auf.
»Weißt du, Ingrid, mit den Zigaretten ist es wie mit dem Sex. Bevor ich Plastik nehme, verzichte ich lieber ganz.«
Im Gegensatz zu der nüchternen Zweckmäßigkeit aus Edelstahl und Kacheln, die die Arbeitsräume der Pathologie beherrschte, war das Büro ein gemütlicher Ort. Birkenholz, ocker- und beigefarbene Stoffe, hohe Zimmerpflanzen in Terrakottatöpfen und zwei Miró-Drucke an der Wand: Man sah, dass Kimsel sich Mühe gegeben hatte, den unschönen Aspekten ihrer Arbeit etwas entgegenzusetzen. Im warmen Licht des Zimmers bemerkte Nyström, dass die lange Nacht tatsächlich Spuren im Gesicht ihrer Freundin hinterlassen hatte, die auch ihr sorgfältig aufgetragenes Make-up nicht vollständig verbarg. Wir werden alle nicht jünger, dachte sie. Kimsel schenkte ihnen beiden Tee aus einer Thermoskanne ein, dann setzte sie sich Nyström gegenüber.
»Ungelöschter Kalk. Auch Ätzkalk oder Branntkalk genannt, Calciumoxid heißt es eigentlich. Findet man häufig in Gewächshäusern und auf Baustellen. Man kann es als Düngemittel benutzen, und es wird bei der Herstellung von Zement benötigt. Es ist eine stark ätzende Substanz, und sie reagiert extrem auf Feuchtigkeit. Unter großer Hitzeentwicklung. Und genau das ist Balthasar Melchior Frost passiert. Der Täter hat seinen Kopf in einen Bottich mit Branntkalk gedrückt, mindestens eine halbe Minute, schätze ich, vielleicht länger. Frost hat
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