Später Frost: Der erste Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
so große Mengen von dem Kalk eingeatmet, dass seine Bronchien vollkommen verätzt sind. Eine langsame und qualvolle Art zu sterben, es muss ein Gefühl gewesen sein, als sei er von innen verbrannt. Dazu kommen die äußeren Verletzungen, die ihm beigebracht worden sind, als er noch gelebt hat. Wie du dir vorstellen kannst, hat das Calciumoxid dort besonders stark reagiert, wo es auf Feuchtigkeit traf: der Mund, die Nase, die Augen. Die weißen, konturlosen Pupillen sind typisch für solche Kalkverletzungen. Die Schmerzen, die Frost erlitten hat, müssen beträchtlich gewesen sein.«
Kimsel nahm einen Schluck von ihrem Tee. Sie umschloss die Tasse mit beiden Händen. Nyström trank ebenfalls, trotzdem spürte sie, dass ihr Hals trocken war.
»Und der Finger?«
»Der wurde post mortem abgetrennt. Und nicht gerade elegant. Ich würde auf eine Art Schere tippen. Eine Astschere vielleicht.«
»Würde naheliegen. In diesem Glashaus gibt es jedenfalls eine Menge Gartenwerkzeug.«
Nyström schloss den obersten Knopf ihrer Bluse, so als sei ihr kalt. Kimsel blätterte in ihren Unterlagen. Hinter ihrem Ohr klemmte jetzt ein Kugelschreiber, dessen Druckknopf wie ein Totenschädel geformt war. Bisweilen hatte die Pathologin einen etwas makabren Sinn für Humor, fand Nyström. Vielleicht brachte das ihr Beruf mit sich.
»Dann gibt es eine horizontale Platzwunde am Hinterkopf, die stark geblutet hat. Das kann ein Schlag mit einem Werkzeug gewesen sein oder ein Stoß gegen eine Metallstrebe oder einen Mauervorsprung. Keine Fraktur, aber stark genug, um einen alten Mann außer Gefecht zu setzen. Interessant fand ich den Mageninhalt des Toten. Irgendwo stand, er sei britischer Abstammung. Das passt. Kurz vor seinem Tod hat er Earl Grey Tea und schottisches short bread zu sich genommen.«
»Was ist mit dem Todeszeitpunkt?«
»Dazu wollte ich gerade kommen. Die klimatischen Verhältnisse in dem Gewächshaus sind nicht gerade schwedischer Standard, aber es gibt Berechnungstabellen für so etwas. Meine erste Einschätzung war eigentlich ganz gut. Er ist am frühen Samstagabend gestorben, zwischen fünf und sieben Uhr.«
»Das war auch die Meinung von Bo Örkenrud.«
»Guter Mann. Dafür, dass er kein Arzt ist, sondern Kriminaltechniker, meine ich.«
Beide Frauen lächelten für einen Moment. Kimsel nahm den Kugelschreiber hinter ihrem Ohr weg. Sie hielt ihn in der Hand und ließ die Mine vor- und zurückschnipsen, schrieb aber nicht damit.
»Ingrid, da ist etwas mit dem Leichnam, was mir nicht gefällt. Ich habe hier schon schlimmer zugerichtete Tote gehabt, Verbrennungsopfer, Verkehrsunfälle, Wasserleichen, du kannst es dir vorstellen. Es ist nicht die Gewalteinwirkung an sich, die mich irritiert, sondern die Art und Weise, wie diese Gewalt in Erscheinung tritt. So wie er in diesem Glashaus gesessen hat, in dieser unnatürlichen Körperhaltung. Und dann die Augen, der Finger. Das alles wirkt auf mich arrangiert, angerichtet. Weißt du, was ich meine? Als decke man einen Tisch für besondere Gäste oder binde einen Blumenstrauß. Als wolle man damit etwas zeigen.«
»Was könnte man deiner Meinung nach zeigen wollen?« Sie war sich nicht sicher, worauf ihre Freundin hinauswollte. Kimsel hatte ihre Backen aufgeblasen, jetzt atmete sie laut schnaubend aus.
»Das kann ich dir nicht sagen. Aber die Augen sind neben dem Herzen vielleicht der symbolhafteste Teil des menschlichen Körpers. In den Augen steckt die Seele des Menschen, sein Leben. Sagt man doch so. Allein schon der Begriff, Augenlicht . Und der Finger, ausgerechnet der kleine Finger. Das ist kein Zufall.«
»Meinst du? Ich finde, das klingt ein bisschen zu sehr nach Psychothriller, nach Hollywood.«
Kimsel lachte ihr dunkles Lachen.
»Du hast wahrscheinlich recht. Küchenpsychologie und Frauenzeitschriften ergeben gefährliches Halbwissen. Aber vielleicht solltest du dich darüber mit jemandem unterhalten, der sich wirklich auskennt. Mit einem Psychologen oder einem Kulturwissenschaftler. Oder vielleicht mit deinem Mann.«
Jetzt lachte Nyström.
»Mit Anders? Ich weiß nicht, ob mir dabei ausgerechnet ein Pastor helfen kann.«
Kimsel lächelte wieder. »Eine religiöse Dimension bekommt der Fall bestimmt. Irgendjemand muss den armen Kerl ja beerdigen.«
3
Der Taxifahrer hatte das Palladium vorgeschlagen, was Lars Knutson mehr als recht war, denn der Kuchen, der im Café des Programmkinos serviert wurde, war ausgezeichnet. Außerdem lag das alte Kino in der
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