Später Frost: Der erste Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
erwähnt hast. Das letzte Blatt am Familienstammbaum.«
»Und der Junge?«
»Wurde von der Familie als vermisst gemeldet, im März 1949. Da war er 19 Jahre alt. Die Akten wurden dreißig Jahre als vertrauliches Material unter Verschluss gehalten und sind erst in den Siebzigern für das zentrale Polizeiregister freigegeben worden.«
»Er ist 1949 verschwunden?«
»Genau. Das war das Jahr, in dem Frost in Schweden aufgetaucht ist!«
»Und wie hieß der junge Mann?«
»Johan Lönn.«
5
Der alte Mann saß an seinem Küchentisch und sagte nichts, aber Ingrid Nyström verstand es auch so. Sie sah es daran, wie sich das Weiße in seinen Augen um eine Nuance einzutrüben, stumpfer zu werden begann. Wie sich die feinen Härchen unter seiner Nase bewegten. Für einen Moment glaubte sie sogar, dass sich der Geruch des Mannes veränderte. Aber das bildete sie sich möglicherweise nur ein. Sie hörte, wie der Ofen knackte. Er backt heute Brot, dachte sie. So wie ihre Großmutter es getan hatte. Ein starkes Gefühl der Zuneigung für den alten Mann durchfuhr sie. Seine gefalteten Hände ruhten auf der dottergelben Wachstuchtischdecke. Dort, wo die Kanne mit dem Maulbeerblütentee gestanden hatte, befand sich ein rundes Muster.
Sie fasste erneut nach Axelssons Händen. Dieses Mal wehrte er sie nicht ab, er erwiderte den Druck ihrer Hand, aber er sagte noch immer nichts. Sein Blick ging aus dem Fenster in den Garten, in dem die nassen Apfelbäume standen. Für eine lange Zeit war es sehr leise im Raum, und nur das unregelmäßige Knacken des Backofens durchbrach die Stille. Schließlich begann Axelsson zu sprechen.
»Heute ist alles anders. Heute ist Schweden eines der liberalsten Länder der Welt. Wir dürfen heiraten, sogar in Kirchen, und Menschen, die gegen uns hetzen, werden ins Gefängnis geworfen.«
Seine Stimme war rau, heiser.
»Das war nicht immer so, Ingrid. Auch wenn Homosexualität offiziell seit 1944 nicht mehr strafbar war. In Wirklichkeit war die Situation für uns in den Fünfzigerjahren sogar noch schlimmer als vorher. Hast du schon einmal von der Kejne-Affäre gehört?«
Sie schüttelte den Kopf. Axelsson griff nach seinem Tee, trank einen Schluck und hielt die Tasse fest in seiner Hand.
»Karl-Erik Kejne war ein Pastor in Stockholm, der mit männlichen Obdachlosen, Sträflingen und gefährdeten Jugendlichen arbeitete. Stricher waren wohl auch dabei. Heute würde man sagen: ein Streetworker. Dieser Pastor Kejne trat 1950 mit dem Vorwurf an die Öffentlichkeit, dass die Polizei und Justiz in Stockholm allen Delikten, die irgendwie mit Homosexualität zu tun hätten, ungenügend nachgingen. Die Presse nahm die Vorwürfe dankbar auf und malte das grelle Bild eines einflussreichen, homosexuellen Netzwerks, in dem Richter, Verwaltungs- und Polizeibeamte Straftaten vertuschen, um ihre sogenannten schwulen Machenschaften zu verbergen, sogar von vertuschten Morden war die Rede. Es kam zu wilden Anschuldigungen und Gegenanschuldigungen. Vilhelm Moberg, unser berühmter Schriftsteller, schlug sich auf Kejnes Seite und wurde einer der einflussreichsten Wortführer dieser Bewegung gegen die Fäulnis des Rechtswesens .«
»Den Begriff habe ich schon einmal gehört.«
»So nannte Moberg es. Es stand in allen Zeitungen. Er behauptete sogar, von einem Mordversuch an Kejne zu wissen. Ein Quecksilbermord! Kommissionen wurden eingesetzt und Verfahren eröffnet. Schließlich trat ein Minister zurück. Einiges wurde nie aufgeklärt, vieles verlief im Sande. Die monatelange Aufregung und öffentliche Debatte gingen schließlich nahtlos in den Wirbel um die Haijby-Affäre über.«
Die Falten an seinem Hals zitterten. Wut, über Jahrzehnte geronnen. Als er seine Tasse wieder abstellte, schwappte etwas von dem Tee auf die Wachstuchtischdecke und über seine Hand, aber er schien es nicht zu bemerken oder es kümmerte ihn nicht.
»Wieder war es unser großer Vilhelm Moberg, der die Geschichte an die Öffentlichkeit brachte. Dieser Kurt Haijby war ein Krimineller, der viele Male im Gefängnis gesessen hatte. Nach dem Verbüßen seiner Haftstrafen eröffnete er ein Restaurant, bekam aber als ehemaliger Straftäter keine Schanklizenz. Haijby protestierte dagegen. Irgendwie gelang es ihm, eine Audienz beim König zu bekommen und seinen Fall vorzutragen. Während dieser Audienz soll es dann angeblich zu einer Verführung seitens des Königs gekommen sein. Haijby behauptete später, zwischen 1936 und 1947 der Liebhaber unseres
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