Spaghetti in flagranti
Strömen. Otto bestellte Spaghetti allo scoglio , die hier so lecker waren wie nirgendwo sonst, und als der Wirt hörte, dass er abreiste, stellte er eine extragroße Portion vor ihn hin. Nach dem Essen, das bis Mitternacht gedauert hatte, waren wir in unsere Stammdisco weitergezogen, an den Ort, an dem Otto und ich uns das erste Mal geküsst hatten. Wir waren seitdem nicht mehr zusammen dort gewesen und ich hatte mir erhofft, dass ich mit ihm wieder knutschend in der Lounge enden würde. Von wegen!
Irgendwie hatte ich nicht ausreichend berücksichtigt, dass Männer unter Gruppenzwang gerne mal ein verändertes oder ungewohntes Verhalten an den Tag legen. Otto hatte sich von Matze und einem anderen Kursteilnehmer zum Partymachen animieren lassen, und die Italiener feierten, überrascht und angestachelt von dem unverhofften Temperamentsausbruch auf deutscher Seite, begeistert mit. Neben Vale und Giorgio waren noch drei andere Jungs aus unserer Clique dabei, die alle ihre Freundinnen zu Hause gelassen hatten. Vermutlich hatten sie da irgendwas falsch verstanden und waren davon ausgegangen, dass es sich um eine Art Junggesellenabschied handelte. Jedenfalls benahmen sie sich so und ließen kein weibliches Wesen im Raum unangeflirtet, die attraktiven, für meinen Geschmack eindeutig zu spärlich bekleideten Kellnerinnen eingeschlossen.
Vale ging es keinen Deut besser als mir, denn Giorgio machte seinem Ruf als Flirtkönig alle Ehre. Geteiltes Leid ist bekanntlich halbes Leid, und so hielten wir uns jede an einem Longdrink fest, standen wie bestellt und nicht abgeholt herum und fühlten mit der anderen mit. Normalerweise blieb hier keine Frau lange unangesprochen, aber offenbar war unsere Ausstrahlung dermaßen negativ, dass selbst die verzweifeltsten Singles lieber ein Mindestmaß an Sicherheitsabstand einhielten.
»Komm, wir gehen uns die Lippen nachziehen«, sagte Vale, nachdem sie ihren Drink leergeschlürft hatte, und zog mich in Richtung der Toiletten.
Ich ließ die feiernde Herrenriege zwar nur ungern aus den Augen, wehrte mich jedoch nicht und schob mein Glas im Vorbeigehen zwischen eine Armada an leeren Flaschen auf einem der Tische. Der Laden war brechend voll, man merkte, dass die Saison allmählich wieder anfing und die Touristen aus ihren Löchern krochen. Den Winter über war es nur an den Wochenenden voll, doch ab Ende Mai war hier wieder fast jeden Abend die Hölle los.
Vor dem Wandspiegel im Vorraum der Toilette herrschte ein Gedränge wie sonst nur an dem Stand mit den Luxuslabel-Klamotten auf dem Wochenmarkt um kurz vor eins. Dann waren die ohnehin schon enorm reduzierten edlen Teile nämlich für die Hälfte zu haben. In der letzten halben Stunde, während der Händler bereits einpackte, konnte man die besten Schnäppchen ergattern.
Hier gab’s heute keine Schnäppchen, eher unliebsame Überraschungen, jedenfalls für mich. Der Spiegel war mir nicht sehr freundlich gesinnt. Das Ebenbild, das er da für mich im Angebot hatte, passte nicht im Geringsten mit meiner Vorstellung von mir selbst zusammen. Meine Wimperntusche war nicht mehr die neueste und schon leicht bröckelig, weshalb ich jetzt unschöne schwarze Schatten unter den Augen hatte und aussah wie Victoria aus Twilight , wenn sie drei Tage kein Menschenblut getrunken hat. Huah!
»Gibst du mir mal das Lipgloss?«, riss Vale mich aus meinen Gedanken und fuhr sich mit dem Zeigefinger mehrfach über die perfekt gezupften Brauen.
Ich wühlte in meiner Tasche, reichte ihr das Döschen und widmete mich dann der Restaurierung meines Antlitzes.
Als wir knapp zwanzig Minuten später wieder zur Tanzfläche kamen, waren die Jungs spurlos verschwunden. Vale und ich beschlossen, getrennt auszuschwärmen und uns in zehn Minuten wieder an Ort und Stelle zu treffen.
Ich schob mich durch die dichtgedrängt stehenden Menschen und versuchte möglichst flach zu atmen, um den Schweißgeruch, der mir hier und da entgegenschlug, nicht zu tief in die Nase zu bekommen. Dabei ließ ich den Blick schweifen und versuchte mich in meinen Highheels noch mehr auf die Zehenspitzen zu stellen, um über die Köpfe der Umstehenden spähen zu können. Nichts.
Als ich schon wieder auf dem Rückweg zur Tanzfläche war, entdeckte ich Ottos gelbes T-Shirt in der Menge an der Bar. Ich winkte ihm und hüpfte dabei mehrfach hoch, leider ohne Erfolg. Ottos Aufmerksamkeit konnte ich damit nicht erringen, dafür nahm mich ein kleiner, dicker Italiener mit zurückgegelten Haaren ins
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