Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau
Tage, an denen wir uns vom Zufall lenken ließen, sind vorbei. Eine Ehe wieder zum Leben zu erwecken, erfordert mehr Zeit, als ich gedacht hatte.
Die Fahrt zu Joan dauert nicht länger als fünf Minuten. Ich bin begierig auf die Einsamkeit, die ihr Haus mir bietet, und auf persönliche Erkenntnisse, wie ich sie während unserer Webstunden so regelmäßig gewann. Unser Plan sieht vor, daß wir beide morgens in getrennten Zimmern schreiben und dann nachmittags zum Weben zusammenkommen. Das letzte Mal, vor etwa zwei Monaten, hängt mir immer noch nach, und ich grübele seitdem ständig über meine verlorene Jugend. Wir hatten über das fünfte Stadium gesprochen, in dem man seine eigene Identität findet und das wahre Selbst. Joan nannte mir viele Beispiele, wie es ihr gelungen war, ihre Persönlichkeit zu entwickeln. Je mehr sie davon erzählte, desto klarer wurde mir, wie sehr ich mich vor dieser Aufgabe gedrückt hatte. Ja, ich hatte das fünfte Stadium insgesamt vermieden, um meinen unstillbaren Hunger nach Intimität und Liebe zu befriedigen, die beide erst im sechsten Stadium kommen sollen. Jetzt habe ich das Gefühl, das alles zu wiederholen – der Beziehung mehr Zeit zu widmen als mir selbst. Werde ich jemals lernen, mein eigenes Leben ernst zu nehmen?
In dieser Stimmung und mit diesen Fragen komme ich bei ihrem Haus an, schließe die Hintertür mit dem Schlüssel auf, den sie für mich hat machen lassen, gehe die Treppe zu meinem Büro hinauf und sinke auf den alten hölzernen Drehstuhl. Wie |87| schön es ist, in meinem eigenen kleinen Raum zu sein, umgeben von ein paar kostbaren Habseligkeiten. Ich habe mehrere Steine vom Strand als Briefbeschwerer mitgebracht, ein Muschelmobile, das an der Decke über meinem Schreibtisch hängt, und es gibt hölzerne Ablagekästen für die laufende und die beendete Arbeit. Ein ordentliches Büro ist so ein Schutzraum, der mich von allen Seiten umschließt und mir in diesem Moment ein behagliches Gefühl der Sicherheit gibt. Ich hole lose Blätter und farbige Stifte aus meiner Aktentasche, stelle Musik an und vertiefe mich in die Schriften von Wallace Stegner, da seine Arbeit für gewöhnlich einen Gedanken in mir freisetzt, der mich schließlich zu Stift und Papier greifen läßt. Mehrere Stunden vergehen, bevor ich das Öffnen der Hintertür höre.
»Hallo«, rufe ich die Treppe hinunter. »Bist du das?«
»Ich bin es«, antwortet sie mir fast singend. »Bist du für mich bereit? Ich habe uns ein Sandwich mitgebracht, ein vegetarisches mit lauter guten Sachen drauf. Soll ich den Kessel aufstellen?«
»Ich komme runter«, sage ich, begierig auf die Ablenkung. Sie küßt mich auf beide Wangen und deckt dann den Tisch, während ich den Tee zubereite.
»Wie geht es Erik?« frage ich, da ich annehme, daß sie im Pflegeheim gewesen ist.
»Gut, Liebes. Danke für die Nachfrage. Wir haben einen schönen Morgen verbracht. Ich hab ihn fest eingemummelt, und wir haben einen Spaziergang durch den Garten gemacht. Das Problem bei solchen Heimen ist, daß man den Wechsel der Jahreszeiten nicht mitbekommt. Ein Tag erscheint wie der andere, wenn man dauernd drinnen sitzt.«
Wieder bin ich verblüfft, höre sie reden, als sei ihr Mann immer noch in der Lage, alles wie früher mit ihr zu teilen. Sie holt nach wie vor soviel Freude wie möglich aus dieser Beziehung, die sich so sehr verändert hat. Ihre Einstellung veranlaßt mich, mein Jammern zu zügeln.
|88| Als der Teekessel pfeift, gieße ich zwei Tassen Ingwertee auf, stelle sie mit Honig und Zuckerwürfeln auf ein Tablett und trage es ins Wohnzimmer, wobei mir Joan auf den Fersen folgt. Sie sitzt kaum auf ihrem Sessel, da bemerke ich auch schon, wie ihr Blick auf den Korb mit dem Garn fällt.
»Ist dir heute nach Weben? Es ist Donnerstag, weißt du.«
»Das wäre toll. Mir gehen unsere Webstunden ab. Es scheint Jahre her zu sein, daß wir friedvoll zusammensaßen und über unsere Vergangenheit sinniert haben.«
»Ich habe mich in den letzten paar Monaten zurückgehalten, obwohl ich natürlich äußerst gespannt darauf war, wie du zurechtkommst. Wir haben wirklich wenig Zeit allein miteinander verbringen können, nicht wahr, Liebes? Aber ich weiß, daß ein Mann das Gefühl braucht, seine Frau bei sich zu haben. Ich nehme an, daß das der Fall war.«
»Tut mir leid, daß ich mich so rar gemacht habe. Wie sehr ich mir auch vorgenommen hatte, nicht in die Rolle der Ehefrau zurückzufallen, hatte ich doch das Gefühl,
Weitere Kostenlose Bücher