SPEED - Auf Der Suche Nach Der Verlorenen Zeit
»über den Ladentisch«, also direkt zwischen den Banken. Und die hätten ja ihre Filialen auf der ganzen Welt. »Sie handeln in London, während der europäische Markt geöffnet ist, in New York, solange dort geöffnet ist, und dann zieht der Markt einfach weiter nach Asien, Japan und Australien. Der Markt folgt der Sonne um die Welt. Ohne Pause.«
Ich komme aus dem Staunen gar nicht mehr heraus, und während ich mich noch über die verrückten Broker und das Wettrennen mit der Sonne wundere, erklärt mir Matthews, dass auch das schon wieder fast Schnee von gestern ist. Denn eigentlich liefe alles schon viel schneller ⦠Streng genommen ist das Hirn von Reuters inzwischen nicht mehr der berühmte Newsroom, sondern die gigantische Serverfarm am Rande der Londoner Docklands, das Reuters Data Center. Auf 28 000 Quadratmetern und acht Stockwerken reiht sich hier eine StraÃe von Servern an die andere. Menschen sucht man vergeblich. Ein paar wenige sitzen im Kontrollraum im fünften Stock herum und kommen nur ab und zu mal vorbei, um einen Rechner auszutauschen oder Kabel umzustecken. Das Data Center beherbergt Tausende und Abertausende Rechner und Server, die so viel Strom verbrauchen wie eine Kleinstadt und so viel Hitze produzieren, dass die Serverfarm direkt an der Themse errichtet werden musste, damit das Wasser des Flusses zur Abkühlung beitragen kann. Das Londoner Data Center ist nur eines von mehreren, die Reuters auf der ganzen Welt betreibt. Alle Daten, die Reuters in sein gigantisches Informationssystem einspeist, laufen über diesen gigantischen Riesencomputer.
Das führt mich zu Scott Kennedy. Er ist bei Reuters verantwortlich für den Bereich Direct Feeds, also für das Tempo der Technik, für die Geschwindigkeit der ganzen Reuters-Informationsmaschine. Kennedy erzählt mir von der rasanten Entwicklung des Geschäfts. »Vor zehn Jahren hat an den Börsen noch der Parketthandel dominiert. Da haben sich die Händler in bunten Jacken gegenseitig die Preise zugeschrien wie damals Michael Douglas in âºWall Streetâ¹. Das gibt es heute kaum noch. Heute hat der Computer übernommen.« Seitdem gebe es einen gewaltigen Hype um die Geschwindigkeit, alle sprächen nur noch vom »Hochfrequenzhandel«. Für den Menschen und für die Zeit, die er braucht, um eine Information zu lesen, sie in ein Programm einzugeben und dann auf einen Knopf zu drücken, gebe es einfach eine natürliche Geschwindigkeitsgrenze. Bei einer Maschine existiere die nicht â zumindest sei die nicht so schnell erreicht. Die einzige Grenze, die die Maschine kennt, ist die Geschwindigkeit, die die Technologie erlaubt, sagt Kennedy, und man hat nicht den Eindruck, dass er das irgendwie bedauern würde. Stattdessen untermauert er die Trägheit des Menschen gleich mit einem Beispiel. »Das menschliche Auge kann Veränderungen auf dem Bildschirm zum Beispiel erst ab einer Drittelsekunde erkennen. Alles, was schneller ist, erkennt es nicht. Wenn eine Telekom-Aktie aber tausendmal in der Sekunde hin und her gehandelt wird, kann man als Händler rein physisch unmöglich alle Preisänderungen in der Sekunde auf dem Monitor erkennen, geschweige denn erfassen. Man kann aber von jeder profitieren. Also muss das der Computer übernehmen«, sagt Kennedy mit einem grinsenden und leicht schiefen Gesichtsausdruck, den ich nicht so ganz deuten kann. Ist es Unsicherheit? Trauert er den alten Tagen vielleicht doch nach oder freut er sich darüber, dass seine Computer langsam die Macht im Hause übernehmen?
Kennedy, das merkt man, ist sehr darauf bedacht, nichts Falsches zu sagen. Er wägt jeden Satz genau ab. Immer wieder unterbricht er sich nach wenigen Sätzen, um seine Aussage neu und besser zu formulieren. Es sollen möglichst geschliffene Sätze herauskommen, die dann teilweise leider wie offizielle Pressemitteilungen klingen. Es scheint ein sensibles Terrain zu sein, auf dem er sich da bewegt. Spätestens seit der Finanzkrise ist der Computerhandel nämlich manchen Experten nicht mehr geheuer. Vielleicht sitzen deswegen auch gleich zwei aufgeregte Damen aus der Presseabteilung von Reuters mit im Raum, die ihm immer dann Zeichen geben, wenn eine Antwort gut oder misslungen war. Entspannter wird der Gute dadurch sicherlich nicht. Kennedy ist um die fünfzig Jahre alt, trägt einen grauen Anzug, natürlich, hat eine Halbglatze,
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