Speichelfaeden in der Buttermilch
Tagebuch, ich habe ja viel Erfahrung als Autofahrer. Seit fast 20 Jahren hab ich den Führerschein, aber ich habe noch nie ein Auto gefahren, auf dessen Dach kein Taxischild war. Kollege Ostermayer musste seinen Führerschein abgeben, nachdem er in den letzten 40 Jahren bei unzähligen Alkoholkontrollen insgesamt die 2000-Promille-Grenze überschritten hatte. Und Gerald Votava hat man den Führerschein abgenommen, nach einem »Projekt X«-Auftritt im Verkehrsministerium, wegen grobem Unfug. Trotzdem sind wir drei Autofahrer eine verschworene Gemeinschaft, wir sitzen am KFZ -Stammtisch in der Kantine und spielen Autoquartett, weil wir die Einzigen bei FM4 sind, die die Regeln heim Autoquartett verstehen. Freeman, wie alle Engländer schwerer Legastheniker, hält die Karten immer verkehrt herum. Mit ihm kann man beim besten Willen nicht seriös Quartett spielen. Alle anderen kennen den Unterschied zwischen PS und km/h nicht. Egal, wir drei sind uns genug, und wenn wir durchs Funkhaus zurück in die Redaktion gehen, spielen wir immer Autorennen. Aäääähhhhh-ähhhhh-ähhh. Herrlich, fast so schön wie wirklich fahren.
13.3.
Liebes Tagebuch, ehrlich, das könnte ich nicht. Jeden Tag im Internetz eine Art Tagebuch führen, so wie Martin Blumenau mit seinem Journal. Dafür wäre ich zu faul und feist. Inzwischen glaube ich, dass Blumenaus Arbeitstag 25 Stunden hat, er steht wahrscheinlich auf, bevor er schlafen geht. Unser Mr. One Million Volt. Auf seinem Schreibtisch liegen meterhoch Zeitschriften und CD s, der Stapel mit Hörerpost reicht von seinem Schreibtisch im vierten Stock bis in den siebten. Sein Postberg wäre die höchste Erhebung in Stermanns Heimat Nordrhein-Westfalen. Blumenau liest am Tag durchschnittlich 400 Magazine und fast 12.000 Tageszeitungen, und im Netz liest er täglich alles, was das World Wide Web neu auswirft. Er ist ein unheimlicher Leibniz, der einzige Lebende, der das gesamte Wissen seiner Zeit intus hat. Ja, von nichts wird man nicht Chefcontroller von FM4 , das beweist er minütlich eindrucksvoll.
Liebes Tagebuch, aufgrund der Masse an Information, die Blumenau in sich aufsaugt, ist er dazu übergegangen, parallel zu lesen. Mit der rechten Hand und dem rechten Auge die Zeit , mit der linken Hand und dem linken Auge die Frankfurter Allgemeine Zeitung , mit dem rechten Fuß und einem Hühnerauge die New York Times , mit den fünf Zehen des linken Fußes Kronen Zeitung , Kurier , Bild , Kicker und News . Faszinierend. Gleichzeitig hört er sich auf drei verschiedenen Discmen drei komplette CD s durch, während er mit der Nase sein Journal in die Tasten hämmert. Trotzdem – und dafür bewundere nicht nur ich ihn – hat er die gesamte Kollegen- und Kolleginnenschaft im Visier, jederzeit bereit, die kleinsten Fehler lautstark anzuprangern. »Multitasking« ist ein Hilfsausdruck für das, was Blumenau tut. Polytasking vom Allerfeinsten, während wir anderen schon stolz sind, an einem ganzen Arbeitstag einen Bleistift fast fertig angespitzt zu haben. Grissemann ist oft schon erschöpft, wenn er sich mal durchs Haar fährt, und ich schwitze schon, wenn ich vom Sessel aufstehe. Der Chefcontroller lebt da in einer ganz anderen Welt. Unheimlich. Ich habe gesehen, dass er sein Journal auf der FM4- Homepage bereits bis 2158 vorgeschrieben hat. Wahnsinn.
15.3.
Liebes Tagebuch, die Roten Nasen waren da. Um uns aufzuheitern. Die Klinikclowns meinten, wir seien die traurigste Jugendredaktion, die sie je gesehen hätten. Nun, sie zauberten und scherzten, aber bei uns blieb jedes Auge trocken. Schließlich hat Chefcontroller Blumenau sie rausgejagt. Kollegen Stermann kann sowieso niemand aufheitern, nachdem er beim Casting für »Quiz Express« Letzter geworden ist. Dabei hatte er sich so viel vorgenommen, ich musste ihm stundenlang gegenübersitzen, als Zuschauerdummy und mich von ihm motivieren lassen anzurufen. Leider war das Urteil der strengen Küniglberg-Caster vernichtend für meinen Freund aus dem Ruhrpott. Ich zitiere: »Dirk Stermann wirkt unkonzentriert und unsympathisch. Sein äußeres Erscheinungsbild ist ungepflegt, er ist zu alt und phlegmatisch, er kann nicht motivieren und sich die Telefonnummer nicht merken. Außerdem scheint er selber zu dumm, als dass man das Gefühl hätte, er selber könne die Fragen richtig beantworten.« Nun, liebes Tagebuch, die gleiche Beurteilung gab es auch damals, als er sich beim Radio beworben hat. Die ORF -Caster haben ihn damals FM4 zugewiesen.
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