Speichelfaeden in der Buttermilch
überstandenen Geisteskrankheit und anschließender Kopfoperation wie der Großvater von Luis Trenker aus. So nannte man ihn zwischen Altötting und Schwabing schnell »den Gesichtsältesten«. Im Krankenhaus verliebte er sich in eine pensionierte Rotkreuz-Sanitäterin aus dem ersten Weltkrieg, der nach einem Kunstfehler die Hirnanhangdrüse aus dem Ohr hing. Oft zog Rocke neckisch daran, so lange, bis sie lächelte. Sie war die einzige Frau, die er kannte, die älter war als er aussah. Rocke sah so alt aus, dass er mehrere Angebote hatte, in Schulen als Zeitzeuge vom Dreißigjährigen Krieg zu berichten. Mit der Zeit wurde er reich, unser bayerischer Gesichtsältester. Er wurde das offizielle Gesicht zur Tut-Ench-Amun-Ausstellung. Weltweit hing sein Portrait in Museen. Als Gesichtsältester hatte er schnell so viel Geld verdient, dass er sich nur noch der Linguistik widmen konnte. Er beschäftigte sich ausschließlich mit seinem Lieblingsprojekt: Er versuchte, mit nur einem einzigen Buchstaben eine ganze Sprache zu kreieren, mit einem Konsonanten. Sehr schwierig, aber das reizte ihn. Kurze Zeit später starb sein Gesicht an Altersschwäche, 45 Jahre vor ihm selbst. Die letzten 45 Jahre seines Lebens musste er also mit geschlossenen Augen und heraushängender Zunge weiterleben. In der Münchner Schickeria nannte man Rocke fortan nur noch »den Gesichtstoten«. Er gründete die Elektro-Trompetenband »Facedeath« und plazierte sich 90-mal hinter einander weit vor Platz 1 in allen Welthitparaden. Rocke, falls du zuhörst: Wenn du nicht so bleibst, wie du bist, werden wir so, wie du uns nicht haben willst.
Richtig schenken
Rusty konnte es nicht glauben: eine Ratte als Geschenk zum ersten Schultag. Solche Dreckseltern. Eine tote Ratte für ein sechsjähriges Kind, mit Nadeln drin, nein, nein, das kann nicht Liebe sein. Traurig steckte er die tote Ratte zurück in die Schultüte. Solche Dreckseltern, es ist doch nicht zu glauben. Das ist doch einfach nicht zu fassen! Dabei war Rusty ein äußerst liebenswürdiges, süßes Kind. Er suchte die Aussprache mit seinen Eltern. »Liebe Eltern«, sagte er, »ich empfinde euer Geschenk zu meinem ersten Schultag als Zumutung. Die anderen Kinder haben Uhren und Süßigkeiten bekommen.« »Ja, Rusty, und du eine tote Ratte. Was dagegen?« Sein Vater roch grauenhaft nach antialkoholischen Getränken. Diese grüner Tee-Fahne war nicht auszuhalten. Von hinten umwehte Rusty der Leichengeruch seiner Großmutter. »Rusty!«, krächzte sie und warf dem lieb gescheitelten Buben ein Diaphragma an den Kopf. »Für dich, zum ersten Schultag!« »Was soll ich denn damit?« flüsterte Rusty traurig. Sein ganzes Leben lang hatte er immer nur unpassende Geschenke bekommen. Zu seinem ersten Geburtstag ein Korsett und eine Packung Tranquilizer, zum Namenstag vor drei Jahren einen Sack Kohlen, und zu Weihnachten als Vierjähriger ein Beatmungsgerät der deutschen Bundeswehr. Und jetzt also die Ratte und das Diaphragma. Wollten ihn seine Eltern fertigmachen? Nein, sie hatten einfach nicht die Gabe, gut zu schenken. Es war nicht so, dass sie sich keine Gedanken machten. Sie entschieden sich einfach falsch. Zur Einschulung schwankten sie lange zwischen der toten Ratte, einem Motorradhelm und einer Enthaarungscreme. Auch die Oma hatte sich die Diaphragma-Entscheidung nicht leicht gemacht. »Was schenkt man einem Sechsjährigen?«, hatte sie sich gefragt. »Nikotinpflaster vielleicht? Oder den Bestseller ›Endlich über 40‹? Ein Originalautogramm von Konrad Adenauer? Nein, dann doch lieber das Diaphragma.« Damit konnte man nichts falsch machen, dachte sie. Elf Jahre später brach Rusty entnervt die Schule ab, aus Angst vor einem Maturageschenk. Schade, fanden seine Eltern, hatten sie doch eine so gute Idee für das Geschenk gehabt. Was schenkt man einem 18jährigen zur Matura? Richtig, eine schöne Klarsichtfolie für den Schülerausweis.
Ludwig Nahverkehr
Ludwig Nahverkehr war Chorherr. Der Einzige im Kinderchor, der die 40 längst überschritten hatte, ein ausgewachsener Mann. Das Durchschnittsalter bei den »Leipziger Kirchenkrähen« lag bei elf Jahren. Ludwig Nahverkehr stach da natürlich heraus. Bei Auftritten der Kirchenkrähen gab es oft ein großes Hallo, wenn der schmerbäuchige, grobschlächtige Nahverkehr in seinem Matrosenanzug zwischen den zerbrechlichen angsterfüllten Knaben stand, singend. Ludwig war bei den Kindern gefürchtet, vor allem, weil sie beim gemeinsamen Duschen alle
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