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Spektrum

Spektrum

Titel: Spektrum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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Sperma«, erläuterte Martin. »Der Zeitraum, in dem eine Zeugung möglich ist, heißt Nacht der Vollendung. Zehn, zwölf Stunden Sex. Ein Hormonsturm, dem sich zu widersetzen fast unmöglich ist. Aber wenn ein Dio-Dao keinen Partner findet … oder sich beherrschen kann … heißt das lediglich, dass seine Sippe ausstirbt. Eine Alternative gibt es nicht.«
    »Ich hätte nicht einen Monat später aus dem Leben scheiden mögen, wenn ich dafür mein Gedächtnis nicht einem Sohn hätte weiterreichen können«, sagte Herbstgeborener, als er an den Tisch zurückkam. »Ich hatte ein interessantes Leben … Dieser Fisch schmeckt dir doch, oder, Martin?«
    »Ja, vielen Dank.« Martin nahm ihm ein Schälchen ab. »Du lebst bereits sechs Monate, nicht wahr, Herbstgeborener?«
    »Sechs Monate und acht Tage«, bestätigte der Dio-Dao. »Mein Sohn ist sehr verständnisvoll … Er versucht, Geduld zu wahren. Ich habe mein Gedächtnis mit ihm bereits so weit wie möglich geteilt. Deshalb langweilt er sich nicht, er ist ein aufgewecktes Kind.«
    »Und … der intrauterine Zeitraum … fällt dabei nicht ins Gewicht?«, hakte Kadrach nach.
    »In der Regel nicht.« Herbstgeborener lächelte. »Es hängt vom Elter ab, wann er beginnt, den Verstand mit seinem Kind zu teilen. Viele verschieben alles auf den letzten Tag. Ich habe damit fast unmittelbar nach der Empfängnis angefangen.«
    »Das klingt seltsam und erschreckend …«, sagte Kadrach. »Verzeih meine Worte, Dio-Dao, aber ich versuche, mir vorzustellen, wie das ist … das Gedächtnis seiner Vorfahren bereits im Mutterleib zu erhalten … zugleich eine Persönlichkeit und Teil einer endlosen Kette zu sein …«
    »Das Gedächtnis wird nur in ausgewählten Teilen weitergegeben«, meinte Herbstgeborener, während er neben Martin auf dem flachen Sofa Platz nahm. »Ich trachte danach, meinem Sohn nur das Schönste und Interessanteste dessen zu geben, was ich erlebt habe. Zugleich halte ich in seinem Gedächtnis meine Fehler wach … meine Zweifel … und Niederlagen. Denn auch das ist ein Teil des Lebens. Ist dir bekannt, dass wir unseren Kindern die Hälfte unseres Gedächtnisses übermitteln können?«
    Kadrach nickte.
    »In mir lebt die Hälfte des Gedächtnisses meines Elters«, fuhr Herbstgeborener fort. »Ein Viertel vom Gedächtnis meines Großelters. Ein Achtel von dem meines Urgroßelters. Und so setzt es sich fort bis zum Anbeginn der Zeiten. Vom Gedächtnis meiner ältesten Vorfahren bewahre ich nicht mehr ihre Worte und Verhaltensweisen, sondern nur noch einen Abglanz ihrer Gefühle. Irgendwann wird auch von meinem Gedächtnis nur ein verschwommener Augenblick übrig sein. Vielleicht sind das meine heutigen Emotionen. Ich weiß es nicht. Darauf, welcher Teil vom Gedächtnis meiner Vorfahren auf meinen Sohn übergeht, habe ich keinen Einfluss, so wie auch er nicht frei sein wird, über das meine zu verfügen. Doch wünschte ich mir, meine Nachfahren erinnerten sich meiner als eines glücklichen Dio-Dao. Wenn ich mich dem Gedächtnis meiner Vorfahren zuwende, dünkt es mich, dass sie glücklich waren, und zwar stets, ihr ganzes Leben lang. Das gleicht einer zärtlichen Wärme, die durch das Dunkel der Jahrhunderte strömt. Es ist sehr erhebend, sich dieser Wärme zu erinnern und zu wissen, dass man sich auch deiner erinnern wird. Ich bin ein Glied in einer Kette von Generationen. Ich bin mehr als ein Individuum, ich bin eine Sippe. Und ich bin glücklich.«
    Kadrach schüttelte den Kopf, als wolle er seine Missbilligung zum Ausdruck bringen. Gleichwohl sagte er kein Wort.
    Herbstgeborener griff nach der Kanne und schenkte Tee in Becher ein. Obschon der Geschmack des Getränks mit dem irdischen Tee nichts gemein hatte, pflegte Martin ihn – ebenso wie jeden anderen Kräuteraufguss auf jedem anderen Planeten – mit diesem Wort zu bezeichnen.
    »Ich freue mich, euch zu sehen«, versicherte Herbstgeborener noch einmal. »Doch bin ich nicht so naiv zu glauben, mein langlebiger Freund Martin habe mich an meinem Todestag besuchen wollen. Noch zweifelhafter scheint mir, ein stolzer Geddar …« Mit einem Lächeln linderte der Dio-Dao die Ironie seiner Worte. »… sei hierhergekommen, um die Besonderheiten unserer Biologie zu erforschen. Womit kann ich euch helfen?«
    Martin und Kadrach wechselten einen Blick. Anscheinend tat sich auch der »stolze Geddar« schwer, einen Sterbenden um etwas zu bitten.
    »Ich sterbe, das lässt sich nicht ändern«, versicherte Herbstgeborener.

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