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Spektrum

Spektrum

Titel: Spektrum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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dich zu sehen, Herbstgeborener«, begrüßte Martin ihn. »Lebe!«
    Während er die Worte aussprach, nahm er mit Verblüffung wahr, dass seine Stimme vor Aufregung zitterte. Die kurze Bekanntschaft mit dem jungen Dio-Dao war keine echte Freundschaft gewesen, konnte keine sein. Wie soll man sich mit einem Wesen anfreunden, dessen Leben nur ein halbes Jahr dauert?
    »Glaub mir, dass auch ich mich freue, dich zu sehen, Martin«, erwiderte der Dio-Dao. »Lebe!«
    Daraufhin streckte er ihm beide Hände entgegen.
    Martin zögerte keinen Moment. Er trat auf Herbstgeborenen zu, um ihn zu umarmen. Der schwere Bauch des Dio-Daos zappelte zwischen ihnen, denn das noch ungeborene Wesen wollte Martin ebenfalls in Augenschein nehmen.
     
    Das Kuppelhaus gliederte sich in zwei Zimmer. In dem kleineren schlief der Dio-Dao. Das große diente ihm als Wohnzimmer, Küche und Bad, alles in einem. Selbst die Toilette trennte nur ein hölzerner Schirm ab. Alles war sehr einfach, schlicht und gleichzeitig solide, gedacht für Jahre und Jahrzehnte.
    »Ich wollte ihn den Wintergeborenen nennen«, sagte Herbstgeborener, der langsam auf den Tisch zustapfte. Sein Gang wirkte komisch, hüpfend – und die jungen Dio-Daos konnten in der Tat wie Kängurus springen –, doch die Schwangerschaft drückte dem Ganzen ihren Stempel auf. Das Wägelchen bot neben dem Bauch auch einer Kanne mit heißem Tee und Schälchen mit Knabbereien Platz. »Jetzt habe ich es mir überlegt. Sein neuer Name ist Den-Der-Freund-Fand. Bist du damit einverstanden, mein Söhnchen?«
    Der Umhang geriet in Bewegung. Aus den Falten tauchte ein kleiner plüschiger Kopf auf, denn die Dio-Daos kommen bepelzt zur Welt, erst mit Beginn der Geschlechtsreife fällt das Fell ab. Verlegen linste der Winzling zu Martin und Kadrach hinüber.
    »Du brauchst dich nicht zu schämen«, erklärte Herbstgeborener. »Antworte.«
    »Ja, Elter«, sagte der kleine Dio-Dao leise. Hernach verschwand der Kopf wieder unter dem Umhang.
    »Er versteht Touristisch?«, fragte Martin begeistert. »Bist du während der Schwangerschaft durch das Große Tor gegangen?«
    »Nein, ich habe mein Sprachgedächtnis mit ihm geteilt«, antwortete Herbstgeborener lächelnd. »Hilf mir mal, Martin …«
    Sie stellten die Kanne und die Schälchen auf den Tisch, danach steuerte Herbstgeborener langsam auf die Küchennische des Zimmers zu, um neue Knabbereien zu holen. Martin bot seine Hilfe nicht an, hätte der Dio-Dao das doch als Beleidigung auffassen können.
    »Die Zeit meines persönlichen Lebens neigt sich ihrem Ende zu«, sagte Herbstgeborener leise, während er einem der kleinen Schränkchen etwas entnahm. »Ich vermute, es wird diese Nacht enden. Aber ich bin froh, sehr froh, dich, der du Jahrzehnte lebst, noch einmal gesehen zu haben …«
    Martins Kehle schnürte sich erneut zusammen. Er wollte etwas sagen, fand jedoch keine Worte.
    »Verzeih meine Direktheit, Herbstgeborener«, mischte sich nun Kadrach ein. »Darf ich dir eine intime Frage stellen?«
    »Ja«, antwortete der Dio-Dao einfach.
    »Zieht eure Fortpflanzung unweigerlich den Tod des gebärenden Individuums nach sich?«
    »Das Fleisch meines Sohnes trennt sich von dem meinen aus freien Stücken«, erklärte Herbstgeborener. »Außerdem produzieren wir schon seit Langem ausreichend Lebensmittel, um den Kindern die Tradition des Kannibalismus innerhalb einer Familie zu ersparen. Aber wenn er geboren wird, wird die Uhr meines Lebens aufhören zu ticken.«
    »Geht das auf einen biologischen Mechanismus zurück?«, wollte Kadrach wissen. »Hormone, Enzyme … Hat man das untersucht?«
    »Habt ihr denn die Mechanismen beobachten können, die euch zum Altern zwingen?«, fragte Herbstgeborener zurück. »Wisst ihr, warum euer Körper altert, ihr gebrechlich werdet und sterbt?«
    »Aber wenn du nicht schwanger geworden wärst …«, nuschelte Kadrach.
    »Dann hätte ich ein paar Tage länger gelebt. Eine Woche vielleicht. Einen Monat …« In die Stimme des Dio-Daos schlich sich Zweifel. »Es gibt Kräuter und Medikamente. Seit Jahrtausenden sucht unser Volk nach dem Geheimnis eines langen Lebens. Die großen Wissenschaftler und Helden haben auf Fortpflanzung verzichtet … Sie haben befohlen, sie in der Nacht der Vollendung zu fesseln. Manche lassen sich die Fortpflanzungsorgane auch gänzlich entfernen. Auch das hat nicht geholfen. Das liegt in unserer Natur, Geddar.«
    »Der Organismus der Dio-Daos produziert drei Eizellen und einmal im Leben eine Portion

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