Spektrum
»Das Gespräch mit euch bedeutet die Freude meiner letzten Stunden. Wenn ich euch jedoch behilflich sein könnte, würde mich das mit Euphorie erfüllen. Sprecht.«
»Erinnerst du dich noch an meinen Beruf?«, fragte Martin.
Herbstgeborener nickte. »Ein gemieteter Polizist.«
»Nun gut … nennen wir es so. Vor kurzem, vor einer Woche …« Martin geriet ins Stocken, als ihm aufging, wie unangemessen ein solcher Ausdruck in einem Gespräch mit einem Wesen war, das nur ein halbes Jahr lebte, doch um sich zu korrigieren, war es nunmehr zu spät. »… hat man mich gebeten, eine junge Frau zu suchen, die durch das Große Tor gegangen ist …«
»Eure Geschlechtspartnerinnen verfügen über Verstand und freien Willen?«, wunderte sich der Dio-Dao.
»Sicher.«
»Ach, verzeih, ich habe das mit den Geddarn verwechselt …« Herbstgeborener lächelte.
Martin schielte zu Kadrach hinüber. Auf dem Gesicht des Geddars erglühten rote Flecken, sein Atem ging schneller, doch er sagte kein Wort.
»Ich habe mich also auf den Weg gemacht …«, fuhr Martin rasch fort.
Die Geschichte war schnell erzählt. Ohne überflüssige Einzelheiten berichtete Martin dem Dio-Dao von den drei Toden der Irina Poluschkina, davon, wie die junge Frau an eine Liste mit den Rätseln des Universums gelangt war, von seiner Vermutung bezüglich des Planeten Marge sowie von dem Geddar, der sich ihm angeschlossen hatte, um an den Schließern Rache zu üben.
Letzteres schien Herbstgeborenen mehr alles andere zu interessieren.
»Noch niemals ist es jemandem gelungen, sich an den Schließern zu rächen«, gab er zu bedenken. »Vielleicht ist das gar nicht so schlecht. Wenn die Interessen der Schließer tatsächlich verletzt werden, wie würde wohl dann ihre Reaktion aussehen? Es steht in ihrer Macht, Planeten zu vernichten, und über die Moral der Schließer weiß niemand etwas zu sagen. Möglicherweise würden sie das Verbrechen eines Einzelnen die ganze Rasse büßen lassen?«
»Ich muss mich rächen«, erwiderte der Geddar mit großem Ernst. »Jeder Landsmann wird mich verstehen und keineswegs verurteilen.«
»Du verfügst mit leichter Hand über das Schicksal deiner biologischen Art«, gab der Dio-Dao zu bedenken.
»Wenn ich meine Ehre von der Stärke des Feinds abhängig machte, dürfte ich dann noch von Ehre sprechen?«, brachte der Geddar kalt hervor. »Zudem wissen wir nicht einmal mit Sicherheit, ob die Schließer in diesen Vorgang verwickelt sind. Wenn nicht, wird die Rettung des Mädchens sie nicht verdrießen. Wenn doch … ist es meine Pflicht, Martin zu helfen.«
Herbstgeborener nickte, dergestalt seine Zustimmung, möglicherweise aber auch seinen Entschluss, auf jeden Streit zu verzichten, zum Ausdruck bringend. »Bring mir das Telefon, Martin«, bat er. »Es ist im Schlafzimmer.«
Martin holte den Apparat, ein schweres Gerät aus einfachem dunkelbraunen Plastik, welches im Gedächtnis das Wort »Ebenholz« heraufbeschwor, und mit einer langen, gummiisolierten Spiralschnur. Das Telefon hatte keinen Hörer, für Mikrofon und Lautsprecher existierten separate Leitungen. Tasten oder eine Wählscheibe fehlten ebenfalls.
»Die Menschen haben eine klügere Konstruktion des Telefons ersonnen«, sagte Kadrach. »Mikrofon und Lautsprecher sind dabei verbunden und …«
»Ich weiß«, unterbrach ihn Herbstgeborener. »Wenn dieses Telefon nichts mehr taugt, wird ein neues Modell an seine Stelle treten. Noch funktioniert es jedoch – weshalb sollte ich es da ersetzen? Jede Sache, die etwas Altes ablöst, das noch nicht ausgedient hat, bedeutet Zeit, die fremdem Leben gestohlen wird.«
Kadrach neigte den Kopf, als erkenne er diese Wahrheit an.
»Wie ist euer Telefon denn aufgebaut?«, fragte ihn Martin.
»Überhaupt nicht«, gestand der Geddar. »Wir haben erst kürzlich die Möglichkeiten zu schätzen gelernt, die die Elektrizität uns bietet.«
Unterdessen sprach Herbstgeborener etwas ins Mikrofon. Dann wiederholte er den Satz.
»Stellen bei euch immer noch Telefonisten die Verbindung her?«, konnte sich Kadrach nicht verkneifen zu fragen. »Es gibt doch Tasten …«
»Ein Computer«, erklärte der Dio-Dao. »Das erledigt ein Computer, bereits in der siebzehnten Generation.«
»Und das Telefon stammt noch aus der Zeit davor?«, hakte Kadrach nach. »Ihr habt euren Maschinen beigebracht, eure Sprache zu verstehen, nur um diese alten Telefonapparate beizubehalten?«
»Das erschien uns am vorteilhaftesten«, meinte Herbstgeborener
Weitere Kostenlose Bücher