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Spektrum

Spektrum

Titel: Spektrum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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Moment lang dachte der Dio-Dao nach, dann sagte er: »Vielleicht wollte sie einer seltenen Konfession beitreten. Wenn es schwierig ist, mit der Rasse, die diesen Glauben pflegt, in Kontakt zu treten, stellt ein Besuch im Tal Gottes die einfachste Alternative dar.«
    »Sind denn Diener der entsprechenden Kulte vor Ort?«, fragte Martin erstaunt.
    »Selbstverständlich. Ein Gott wohnt nicht in einem leeren Tempel.«
    »Hmm«, brummte Martin. Bei Irina Poluschkina rechnete er mit allem Möglichen, doch einen heftigen Anfall von Religiosität traute er ihr einfach nicht zu. »Gibt es noch andere Möglichkeiten?«
    »Sie könnte sich für Theologie interessieren«, schlug Herbstgeborener vor. »Und das Tal Gottes ist der ideale Ort, um die unterschiedlichen Glaubensrichtungen zu studieren.«
    »Wir müssen uns dorthin begeben«, sagte Kadrach missmutig zu Martin. »Das will mir nicht gefallen, mein Freund. Überhaupt nicht.«
    »Warum nicht?«
    »Das ist …« Kadrach zögerte. »Das grenzt an Blasphemie, Sage, Dio-Dao, gibt es in diesem … Tal … einen Schwertgriff des ThaiGeddars?«
    »›Schwertgriff‹? Ist das euer Name für ein Gotteshaus?«, fragte Herbstgeborener zurück. »Einer meiner Vorfahren hat euer Volk studiert, aber das ist lange her, und ich verfüge nur noch über Krumen seines Wissens … Vermutlich gibt es einen solchen Ort. Ich war nie dort, doch im Tal Gottes werden mehr als siebenhundert religiöse Kulte praktiziert.«
    Zischend stieß Kadrach die Luft aus, bettete das Kinn in die Hand und versank in Gedanken.
    »Eine verzwickte Situation …«, bemerkte Herbstgeborener voller Anteilnahme, während er sich über den Bauch strich. »Sag, Martin, wärest auch du schockiert, träfest du im Tal Gottes deine Glaubensbrüder?«
    »Sind sie Dio-Daos?«, wollte Martin wissen.
    Herbstgeborener nickte.
    »In gewisser Weise schon«, gestand Martin. Als er sich ein Känguru vorstellte, das Ornat trug und am Altar stand, bemächtigte sich seiner eine Verwirrung sondergleichen. Er linste zu Kadrach hinüber. »Natürlich würde ich nicht mit dem Schwert auf sie losstürmen und von Frevel schreien …«
    »Mein Freund!« Kadrach seufzte schwer. »Es ist nicht nötig, mich zu Toleranz zu mahnen. Ich kann vieles hinnehmen! Doch es gibt eine Grenze, die ich nicht überschreiten kann. Wenn ich sehe, wie ein Dio-Dao unseren Glauben entstellt, über den Triumph des ThaiGeddars spottet und unsere heiligen Bräuche parodiert … werde ich meine Pflicht über meine Geduld und meine Nachsicht stellen.«
    »Glaube mir«, mischte sich Herbstgeborener mit leiser Stimme ein, »im Tal Gottes spottet niemand über einen fremden Glauben. Was du siehst, mag dir befremdlich und beleidigend vorkommen, doch wenn du dir die Mühe machst, alles zu verstehen, wird dein Zorn sich legen.«
    »Gut«, lenkte Kadrach ein. »Ich werde versuchen, objektiv zu sein. Wie kommen wir ins Tal?«
    »Allein werdet ihr es nicht schaffen. Ihr braucht Begleitung«, entschied Herbstgeborener. »Ich denke, das wird Den-Der-Freund-Fand übernehmen. Nicht wahr, mein Söhnchen?«
    Aus dem Spalt des Umhangs lugte der kleine Kopf hervor. »Ich höre, Elter«, sagte Den-Der-Freund-Fand verlegen. »Ich werde den Fremdlingen behilflich sein, ins Tal Gottes zu gelangen. Aber ich vermag kaum noch zu warten.«
    Die Hand von Herbstgeborenem strich zärtlich über das flaumige Köpfchen des Jungen. »Ich weiß, mein Söhnchen. Gedulde dich noch wenige Minuten. Die Zeit deiner Geburt ist gekommen.«
    Der Kopf nickte und verschwand im Beutel. Martin erschauderte – was dem Dio-Dao nicht entging.
    »Ich brauche keine Hilfe bei der Geburt, Martin«, sagte Herbstgeborener. »Aber wenn du diesen Augenblick mit mir teilen wolltest, würde mich das sehr freuen. Wenn du meinem Sohn danach behilflich wärest, meinen Körper zu bestatten, würdest du mir einen großen Dienst erweisen.«
    »Ich werde ihm helfen«, versprach Martin. Er suchte nach passenden Worten und murmelte: »Ich bin sehr stolz darauf, dich kennengelernt zu haben. Nun wird mir etwas fehlen.«
    Herbstgeborener nickte. »Hilf mir zum Schlafzimmer hinüber«, bat er lächelnd. »Meine Kräfte lassen nach.«
    Martin stützte Herbstgeborenen beim Gehen. Der Dio-Dao schwankte bereits. Man konnte förmlich zusehen, wie alle Kraft aus ihm wich. In der Türfüllung, vor der einzig ein dichter, schwerer Vorhang hing, drehte Herbstgeborener sich noch einmal um. »Lebe wohl, Geddar. Lebe und vergiss nicht.«
    »Lebe

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