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Spektrum

Spektrum

Titel: Spektrum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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bereits mindestens ein Viertel des Hefts beschrieben war. Dann begann Eff-Eff vorzulesen: »Den Herbst begrüßte er bereits zum zweiten Mal. Heute war sein Geburtstag , denn genau vor zwei Jahren hatte Traumbeflügelter die warmen und ruhigen Tiefen des väterlichen Beutels verlassen …« Eff-Eff legte eine beredte Pause ein und sagte dann: »Ich stelle mir vor, welchen Schock ein Leser durchlebt, der diese Zeilen liest.«
    »Nicht nur das. Mit einem gelungenen Anfang hält man den Schlüssel zum Erfolg in der Hand«, pflichtete Martin ihm bei.
    »Den Ausdruck Geburtstag hat mir der ehrbare Geddar verraten«, gestand Eff-Eff. »Zunächst hieß es bei mir: Der Planet hatte den Himmelskörper bereits zweimal umrundet seit jenem Tag, an dem Traumbeflügelter … und so weiter. Ich glaube, neue und überraschende Begriffe verleihen dem Text eine größere Elastizität und flößen Vertrauen zu der geschilderten Welt ein.«
    »Gut möglich«, meinte Martin. Dann sah er zu Kadrach hinüber, der mit einem zufriedenen Lächeln dem Dio-Dao lauschte.
    »Und das ist meine Lieblingsstelle …« Der Dio-Dao blätterte einige Seiten vor. »Gras. Himmel. Stille. Sonst nichts … Das ist ein komisches Wort: nichts. Es bedeutet nichts, trotzdem gebrauchen wir es so gern. Wir hassen allein den Gedanken an das Nichts, das früher oder später eintritt … und dennoch geht uns das Wort so leicht über die Lippen. Nichts. Nur die Grashalme vor den Augen, nur die dahinziehenden Wolken … Die Wolken wissen nicht, was es mit diesem Nichts auf sich hat. Weiß auf Dunkelblau. Dampf in der Leere. Knäuel von Rauch – des Rauchs von unserem Glauben. Wenn du klein bist, baust du Zauberschlösser aus weißem Nebel … Nichts. Du kannst dich erheben, du kannst jedoch auch im körperhohen Gras liegen bleiben. Was würde sich damit ändern? Nichts. Wasserdampf. Ha-Zwei-O … Warum erhebt man sich so ungern aus dem schweren Geruch des Grases, aus den zitternden Halmen, aus der Sekunde der Kindheit, die einem gleich einem überraschenden Geschenk zuteil geworden? Letztlich gibt es nichts, nur den Dampf, nur Ha-Zwei-O … Nur den weißen Wolkenschleier vor dem Antlitz des Himmels, der an zarte Kreidestriche auf einer Schultafel gemahnt …
    Die Kindheit entschwand, doch blieben die über der Erde dahinziehenden Wolken. Sie wissen nicht, dass du seit Langem herangereift bist. Sie sind die gleichen wie ein Jahr zuvor. Du jedoch reifst, alterst, stirbst … Die Wolken werden auch fürderhin über der Erde treiben, und der kleine Junge wird im Gras liegen, blind und gedankenleer in den Himmel schauen, ohne zu wissen, dass seine Wolken auch über mich hinwegzogen, ohne zu wissen, dass jeder Traum sich in den Jahrhunderten wiederholt … Nichts. Doch derweil am Himmel noch Wolken ziehen, lebe ich. Ich bin dieser Junge, der vor tausend Jahren in den Himmel geschaut hat. Ich bin dieser Alte, der dem Himmel in tausend Jahren zulächelt. Ich lebe ewig! Ich werde immer leben! Ha-Zwei-O, das ist das Material, aus dem Wolken wie Meere gemacht sind, mein Fleisch ebenso wie der Saft des Grases. Ich bin das Wasser und das Feuer, die Erde und der Wind. Ich bin ewig, solange die Wolken über der Erde hinwegziehen. Gras … Himmel … Stille. Ich danke diesem Himmel. Diesem Gras. Diesen Wolken. Dieser Ewigkeit, die einem jeden geschenkt ist. Wenn man sich nur nach dem Himmel streckt …«
    »Du bist ja ein Dichter, Eff-Eff«, sagte Martin.
    Die bronzene Haut des Dio-Daos rötete sich kaum merklich ob seiner Verlegenheit.
    »Ich gebe mir Mühe. Einer meiner fernen Vorfahren war ein Geschichtsschreiber, einiges von ihm bewahre ich in meinem Gedächtnis auf. Das hilft mir.«
    »Und worum geht es in deinem Roman?«, erkundigte sich Martin.
    »Wie du bereits diesem Auszug entnehmen kannst, gelangt Traumbeflügelter durch schwere Schicksalsprüfungen zu der Auffassung, dass ein langes Leben ein intelligentes Wesen nicht glücklich macht, dass er seinen Vorfahren, die lediglich ein halbes Jahr lebten, dadurch in keiner Weise überlegen ist!«
    »Verstehe.« Martin nickte.
    »Ich bin mir mit dieser Idee nicht hundertprozentig sicher«, gab Eff-Eff zu. »Aber ansonsten wäre es für den Leser zu traurig.«
    »Da hast du recht«, bestätigte Martin. »Die meisten Schriftsteller von der Erde vertreten eine ähnliche Moral. Der Leser tut ihnen leid … und sie sich selbst natürlich auch.«
    »Dann werde ich noch weiter darüber nachdenken«, erklärte Eff-Eff finster.

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