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Spektrum

Spektrum

Titel: Spektrum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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Stunde wurde es wärmer und wärmer. Der Schnee verschwand, steinernes Flachland zog sich dahin, das später Felder mit niedrigem Gebüsch ablösten, welche augenscheinlich bestellt und bearbeitet wurden. Am Himmel hingen keine bleifarbenen Wolken mehr, er selbst prangte in Farben von braunem Grün bis hin zu einem reinen grünlichen Hellblau. Bisweilen huschte eine kleine Siedlung am Fenster vorbei, dreimal hielt der Zug in großen Städten an.
    Niemand gesellte sich zu ihnen in den Waggon.
    Eff-Eff aß nahezu ununterbrochen. Martin vermeinte, den Dio-Dao förmlich wachsen zu sehen: Er brauchte nur eine Minute den Blick abzuwenden, da war der Kleine wieder ein wenig größer geworden. Diese Rasse kannte keine Kindheit – und im Grunde auch kein Greisentum. Mehr als einmal hatte Martin den Vergleich zwischen dem menschlichen Leben und einem Feuer vernommen. Das Leben der Dio-Daos brannte nicht – es explodierte.
    Draußen wurde es immer wärmer.
    Die Gebüschpflanzungen wichen zunächst Getreidefeldern, hernach Weiden, über die gemästete zweibeinige Tiere streiften, die an auf den Hinterbeinen stehende Kühe erinnerten. Das ganze Leben auf Marge folgte demselben Prinzip, kein Tier lebte länger als ein halbes Jahr, alle wuchsen in Beuteln heran und verfügten über ein erbliches Gedächtnis.
    Ein trauriger Planet …
    Martin machte es sich im Sessel so bequem als möglich, schloss die Augen und versuchte zu dösen. Auf dem Sitz ihm gegenüber kaute der Dio-Dao etwas, das an Salzstangen erinnerte, und las ein Buch, ein normales papierenes Buch, das einem Exemplar auf der Erde stark ähnelte.
    »Was lesen wir denn?«, konnte Martin sich nicht verkneifen zu fragen. Die Dio-Daos hatten augenscheinlich etwas dagegen, Zeit zu vergeuden. Sollte Den-Der-Freund-Fand in die Fußstapfen seines Vaters treten und sich mit der Rechtspflege befassen, musste er binnen kürzester Zeit etliche Kodizes der Dio-Daos studieren.
    »Ich habe mir einen Roman für unterwegs eingesteckt …« Verlegenheit packte Eff-Eff. »Etwas Belletristisches. Fiktives.«
    »Wovon handelt es?«, wollte Martin wissen. Bei seinem letzten Besuch hatte er sich kaum mit der Kultur der Dio-Daos beschäftigt, sondern ausschließlich auf die Einhaltung der Gesetze und ihre Bräuche geachtet.
    »Von einem Dio-Dao namens Hinaufstrebender. Er möchte lange leben und schließt einen Pakt mit dem Teufel. Allhalbjährlich muss er einen jungen Dio-Dao umbringen und verspeisen. Danach wird er wieder jung und kann sich als sein eigener Sohn ausgeben. Aber ein Mitarbeiter der Polizei, Dereinsterinnerer, verdächtigt ihn nach einer zufälligen Begegnung … Er hält das Gedächtnis der Vorfahren heilig und kann den Verbrecher erkennen, gegen den bereits sein Vater und sein Großvater gekämpft haben …« Der Dio-Dao verstummte. »Dieses Sujet klingt vermutlich naiv für ein Wesen, das Jahrzehnte lebt?«, fragte er dann.
    »Warum sollte es das?«, widersprach Martin. »Wir kennen vergleichbare Geschichten, nur wollten unsere Verbrecher kein langes Leben, sondern Unsterblichkeit.«
    »Dergleichen ist nur schwer vorstellbar …«, brachte Eff-Eff nachdenklich hervor. »Kannst du mir von einem Menschenbuch über dieses Thema erzählen?«
    Nach einigem Nachdenken gab Martin Das Bildnis des Dorian Gray wieder. Dio-Dao stellte sich als dankbarer Zuhörer heraus. Schon bald nachdem das Porträt des unglücklichen Dorian an seiner statt zu altern begann, standen Den-Der-Freund-Fand Tränen in den Augen. Den Schluss nahm er mit stoischer Ruhe auf, obgleich er ohne Frage erschüttert war.
    »Da steckt eine sehr tiefe Philosophie drin«, kommentierte er. »Sehr tiefe. Dieses Buch ist wohl nicht ins Touristische übersetzt?«
    »Ich habe überhaupt noch nie davon gehört, dass Bücher ins Touristische übersetzt werden.«
    »Wie bedauerlich!«, meinte der Dio-Dao unumwunden. »Was für eine anrührende Geschichte! Derjenige, der sie geschaffen hat, genoss sicher die Liebe aller und galt als Lehrer der Moral.«
    »Wie soll ich dir das erklären …«, setzte Martin an. »Ehrlich gesagt, hatte er gewisse Probleme mit der Liebe und der Moral … Ich vermute, das ist für dich nicht ganz einfach zu verstehen, aber …«
    Glücklicherweise interessierte sich der Dio-Dao weniger für die Persönlichkeit des unglückseligen Wilde als vielmehr für weitere Sujets, die das ihn beschäftigende Thema variierten. Martin erzählte ihm Balzacs Roman Das Chagrinleder, der ungleich geringeren

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