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Spektrum

Spektrum

Titel: Spektrum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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aus. Doch selbst wenn er gemessenen Schrittes herausgekommen wäre, hätte das nichts an der Situation geändert.
    »Ist eine Frau meiner Rasse durch den Torbogen gegangen?«, fragte er. »Heute, vor ein paar Stunden?«
    Einige Dio-Daos, die sich unter Aufbietung aller Kräfte hatten beruhigen können, nickten.
    »Wohin ist sie gegangen?«, fragte Martin sicherheitshalber.
    Sein Verdacht bestätigte sich.
    »Die Frau erkundigte sich nach dem Weg zum Schwertgriff des ThaiGeddars«, erhielt er als Antwort.
    Martin trat an den Torbogen heran – und betrachtete entsetzt das Bild, das sich ihm bot.
    Das Tal erstreckte sich zehn, ja, fünfzehn Kilometer in die Länge, brachte es in der Breite jedoch auf höchstens drei. Und die gesamte Fläche war dicht mit absonderlichen Bauten bedeckt. Unwillkürlich suchten seine Augen nach etwas irgendwie Bekanntem, sei es die goldene Kuppel einer Kirche oder wenigstens ein katholisches Gotteshaus, ein Minarett, eine Pagode oder Synagoge. Sein Blick blieb indes an einem runden Steinbau inmitten eines künstlich geschaffenen Sumpfs hängen, an einem zum Himmel aufragenden Turm, der in silbrige Pfeile mündete, an dem Rad eines Hebewerks über einem Schacht, an einer monströsen Statue, die einen die Scheren schwenkenden Hummer darstellte, an einem spiralförmigen Aquädukt, in dem träge Wasser plätscherte, an einem Feuer, das in einer gigantischen Schale loderte. Kleinere Bauwerke verschwanden in der Abenddämmerung.
    »Wo ist es, der Schwertgriff des ThaiGeddars?«, rief Martin.
    Ein an ihn herantretender Dio-Dao wies schweigend nach rechts. Martin folgte der Richtung seiner Hand und machte einen aus dem Berghang herausgewachsenen Bau aus. Am ehesten glich er einer stilisierten geballten Faust aus Stein. Die Hand hielt etwas, das an ein Stichblatt oder eben an einen Schwertgriff erinnerte. Statt einer Klinge ragte aus dem Griff jedoch ein schmaler Lichtstrahl, der hinauf in den Himmel schoss.
    »Wie buchstäblich hier alles verstanden wird …«, murmelte Martin. »Vielen Dank, Dio-Dao.«
    Daraufhin rannte er los und stellte es den Wachtposten des Tals anheim, abermals in Gelächter auszubrechen.
     
    Gegen Abend belebte sich das Tal Gottes. Offenbar pflegten die meisten Rassen den Brauch, die Sonne mit mystischen Ritualen zu begrüßen und zu verabschieden. Die Flamme in der riesigen Schale wechselte die Farbe und pulsierte, gleichsam als fachten unsichtbare Blasebälge sie an. Hier und da sprudelten Springbrunnen. Über einem düsteren Bau bar aller Türen und Fenster stieg ein Schwarm Vögel in die Luft und zog dort seine Runden. Die Vögel erinnerten von der Größe und vom Gebaren her an Tauben, zeigten jedoch eine Färbung wie Kolibri.
    Hinzu kamen Geräusche!
    Unsichtbare Trommeln schlugen, von dröhnenden Gongs begleitet. Trompeten stießen ein durchdringendes Tosen aus, ein Cembalo wimmerte, Geigen klagten im Todeskrampf, Saiten klimperten. In der Ferne läuteten Glocken, erklangen Orgelpfeifen, untermalte ein klagendes Harmonium Spirituals, klirrte zerspringendes Glas und heulten Turbinen …
    Hinzu kamen Stimmen!
    Servile und stolze Stimmen, zärtliche und drohende, bittende und fordernde, segnende und verdammende. Stimmen in tausend Zungen. Stimmen, bei denen einem alles hochkam. Stimmen, die sich in Schädel bohrten. Stimmen, die der Schmerz gebar, Stimmen, die jede Sorge forttrugen …
    Hinzu kamen Gerüche!
    Das süßliche Aroma der Öle, der bittere Rauch brennender Kräuter, der widerliche Gestank vermodernder organischer Stoffe … Betäubende Gerüche, aufwühlende Gerüche, stechende Gerüche, beruhigende Gerüche, bekannte Gerüche und Gerüche, die der Mensch nie gerochen … Natürliche Gerüche, ätzende chemische Gerüche, ausgewogene liniengleiche Gerüche, schemenhafte und vermischte, einem in der Luft zerfließenden Fleck ähnelnde Gerüche …
    Hinzu kamen die Dio-Daos in den Türen der Tempel und Heiligtümer!
    Dio-Daos in bodenlangen Gewändern und Soutanen, Überwürfen und Anzügen, Federn und Fellen, nackt und bemalt, in Reglosigkeit erstarrt und im wilden Tanz eines wunderlichen Rhythmus hüpfend, schreitend und springend, Martin inspizierend und den Blick gen Himmel gedreht …
    Martin lief zwischen den Tempeln umher, die engen betonierten Straßen entlang, die sich unablässig verzweigten und die Richtung änderten. Der Schwertgriff des ThaiGeddars kam näher und näher, doch noch versperrte ein Kanal den Weg zu ihm, in dem nackte Dio-Daos reglos

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