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Spektrum

Spektrum

Titel: Spektrum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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dumme kindliche Phantasien. Das weiß ich ja. Aber Irotschka war es ernst, als sie davon gesprochen hat.«
    »Mein siebenjähriger Sohn meint es auch ernst, wenn er behauptet, er würde der Präsident der ganzen Erde«, berichtete Juri Sergejewitsch. »Und meine älteste Tochter … sie ist etwas älter als Irina … ist überzeugt davon, dass sie ein Filmstar in Hollywood wird.«
    »Aber Sie würden doch Irina trotzdem suchen?«, wollte Martin wissen. »Wenn es allein in Ihrer Macht stünde, würden Sie das Risiko doch eingehen, oder?«
    Juri Sergejewitsch antwortete nicht gleich. »Ich würde es sehr begrüßen, wenn mein Sohn Präsident würde. Aber momentan ist er ein mittelmäßiger Schüler, der das R nicht richtig rollen kann und manchmal ins Bett pinkelt. Und meine Tochter hat nicht einen Funken schauspielerischen Talents. Zwischen unseren Wünschen und der Realität klafft ein Abgrund. Das wissen Sie doch selbst ganz genau!«
    »Stellen Sie mir eine Bescheinigung aus, damit ich das Gebäude verlassen kann«, bat Martin. »Ich werde Ihnen keine Scherereien mehr machen.«
    »Das will ich hoffen …«, erwiderte Juri Sergejewitsch nickend. »Und ich hoffe inständig, dass Sie sich das zu Herzen nehmen.« Er sah Martin in die Augen. »Wenn Sie Irina noch einmal hinterherjagen, lasse ich Sie verhaften.«
    »Das habe ich verstanden. Woher wussten Sie eigentlich, was bei den Dio-Daos passiert ist?«
    »Dank den Europäern«, antwortete der Tschekist finster. »Das sind ja jetzt unsere Verbündeten … Übrigens haben sie Sie für einen meiner Agenten gehalten. Und sie waren sehr empört, dass sie über die Operation nicht vorab informiert wurden.«
    »Ich werde nichts mehr unternehmen«, versicherte Martin schuldbewusst.

Eins
     
    Wie fühlt sich ein Mensch, der erfährt, dass seinetwegen vier gänzlich unschuldige junge Frauen gestorben sind?
    Martin wusste darauf keine Antwort. Vielleicht weil er jene schreckliche Grenze hatte überschreiten müssen, die glücklicherweise nur wenige zu passieren brauchen: Er hatte geschossen, hatte töten wollen – und dieser Wunsch war ihm erfüllt worden. Und was war im Vergleich zu einem echten Mord jene Kette von Zufällen, die regelmäßig zum Tod von Irina Poluschkina geführt hatte? Konnte man eine solche Schuld überhaupt empfinden? Vermutlich hätte der Fahrer eines Notarztwagens, der einen Fußgänger umfuhr, während er alles daran setzte, einen Sterbenden ins Krankenhaus zu bringen, volles Verständnis für Martin gehabt. In Martins Bekanntenkreis gab es allerdings keinen Fahrer, der über eine solche traurige Erfahrung verfügte. Das diesbezügliche Extrem stellte eine nette junge Frau dar, die unglaubliches Pech mit alten Frauen hatte: Alle halbe Jahre einmal lief ihr eine Oma vors Auto, die jedoch mit einem gebrochenen Arm oder Bein davonkam.
    Besagte Frau, jene Gefahr für alte Damen, rief Martin indes nicht an. Je länger er über seine Situation nachdachte, desto bedrückter wurde er.
    Denn er fühlte sich überhaupt nicht schuldig!
    Nur auf seiner Seele – wenn man ihre Existenz einmal einräumte – gab es einen hässlichen Fleck …
    Bestimmt wäre es heilsam gewesen, in die Kirche zu gehen und seine Trauer einem weisen Geistlichen zu beichten. Damit der ihm die Leviten las, ihn aber auch beruhigte … Allerdings war Martin noch nie ein Kirchgänger gewesen. Zudem konnte er sich ohne weiteres vorstellen, was der Priester ihm sagen würde. »Du hast die Mädchen nicht ermordet? Du nimmst nicht an, dein Verhalten habe zu ihrem Tod geführt? Dann gehe in Frieden und versündige dich nicht!«
    Dabei wollte Martin seine Schuld ja fühlen. Er wollte sich quälen, bereuen und eine Katharsis durchleben. Die russische Intelligenz hat in sich dieses nicht zu tilgende Bedürfnis, das seit dem 19. Jahrhundert von den großen Schriftstellern besungen wird und den Hauptgrund für Alkoholismus, Herzerkrankungen und revolutionäre Stimmungen von Personen mit höherer Bildung darstellt.
    Nachdem Martin eine halbe Stunde so durch seine Wohnung getigert war, sich gedanklich mit dem weisen Priester, dem todbringenden Krankenwagenfahrer und Fjodor Michailowitsch Dostojewski ausgetauscht hatte, langte er entschlossen nach dem Telefon und rief Ernesto Semjonowitsch Poluschkin an.
    Der unfreiwillig zum mehrfachen Vater avancierte Mann nahm augenblicklich ab.
    »Ich bin’s, Martin«, meldete sich der seiner Katharsis harrende Sünder formlos. Seltene Namen boten immerhin den

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