Spektrum
bei einem autodidaktischen Priester mit gesundem Menschenverstand gekommen war.
»Onkel«, appellierte er abermals an die Gefühle seines Verwandten. »Ist dir das denn noch nie passiert, dass ein Mensch stirbt und du dich schuldig fühlst, obwohl dich keine Schuld trifft?«
»Jeder Mensch, der mein Alter erreicht hat, kennt solche Situationen zur Genüge«, lenkte der Onkel ein. »Aber … Was rede ich denn da? Du willst mir doch wohl nicht weismachen, dass dir das noch nie passiert ist? Schließlich bist du kein Kind mehr!«
»Es ist passiert«, räumte Martin ein. »Aber trotzdem: Wie kann es sein, dass ich zwar kein Schuldgefühl empfinde, aber meine Seele durchhängt?«
»War das Mädchen hübsch?«, fragte der Onkel scharfsichtig.
»Hm.«
»Du wirst eine andere finden, eine bessere«, versicherte der Onkel. »Glaubst du etwa, eine wie sie gibt es nur einmal im ganzen Universum?«
»Es gibt noch mindestens drei«, gestand Martin.
»Siehst du! Das hört sich schon besser an! Da spricht nicht der kleine Junge, sondern der junge Mann«, freute sich der Onkel. »Falls du meinen Rat willst: Betrink dich. Wenn du willst, komme ich vorbei, obwohl ich mir die Gesundheit nicht so verderben sollte … Oder ruf deinen Bruder an. Oder einen Freund. Aber sofern du nicht mit dem Gedanken an Selbstmord spielst, gibt es nichts Besseres, als dich in absoluter Einsamkeit zu betrinken! Wodka schürt die Wehmut, Wein bringt gar nichts … Nimm Kognak! Oder Gin Tonic. Die mildern deinen Kummer, machen ihn prickelnd, wenn auch ein wenig bitter …«
Martin schielte zu dem geleerten Glas hinüber und schüttelte den Kopf. O ja, der Prophet, der sonst in seinem Onkel schlummerte, lief heute zu Höchstform auf!
»Danke dir, das werde ich machen«, versicherte Martin.
»Und fahr irgendwo hin. Bei Gott, du solltest dich endlich mal erholen und amüsieren!«, demonstrierte der Onkel endlich seine verborgenen Talente. »Nach Odessa, nach Jalta. Bier, Frauen, Kognak – das sind deine besten Freunde!« Nach einer winzigen Pause präzisierte der Onkel: »In der gegebenen Situation.«
Was könnte einen erwachsenen Mann, den Alkohol in eine stabile, positive Gemütsverfassung versetzte, der über ausreichend finanzielle Mittel verfügte, eine beklagenswerte Stimmung durchlebte und von einem Verwandten, ja, man konnte sogar sagen: von einem Mentor, den Rat erhielt, sich zu betrinken, daran hindern? Vor allem wenn er obendrein noch alleinstehend war?
Eben.
Martin sah ein, dass er keine andere Wahl hatte.
Auf das Besäufnis bereitete er sich penibel vor. Ungeachtet der Empfehlung des Onkels für einen Gin Tonic entnahm Martin der Bar einen Kognak, keinen ausgezeichneten wie einen Prasdnitschny oder einen Jubileiny, sondern einen ganz ordentlichen armenischen Ani.
Französischen Kognak schätzte er nicht unbedingt. Sollten die überheblichen Franzosen ruhig alles, was außerhalb der Provinz Cognac hergestellt wurde, hochnäsig als Brandy abtun. Als Russe wusste Martin schließlich, dass echter Kognak entweder aus Armenien oder aus Georgien kommt. Völlig zu Recht hatte darauf bereits Sir Winston Churchill hingewiesen – den man ja nun wahrlich nicht der Russophilie bezichtigen konnte! Nein, Martin war kein überheblicher Snob, der sich über Courvoisier ausließ!
Zunächst kümmerte er sich um die Zuspeisen. In der Kaffeemühle vermahlte er Zucker zu feinem Puder, den er anschließend in eine Untertasse gab. Dann füllte er die Mühle mit einem Dutzend Kaffeebohnen, aus denen er ein Pulver erstellte, das selbst für Espresso zu fein gewesen wäre. Dieses vermengte er mit dem Zucker. Jetzt musste er nur noch eine Zitrone in feine Scheiben schneiden und sie mit dem Gemisch bestreuen, um die berühmte Nikolaschka zu erhalten, eine exzellente Zuspeise zum Kognak und der entscheidende kulinarische Beitrag des letzten russischen Zaren.
Der Kühlschrank hielt jedoch eine Enttäuschung für Martin bereit. Zitronen fanden sich darin keine mehr, nur ein verwaistes Pärchen Limonen grünte dort, die zwar für Tequila unersetzlich sind, für einen Kognak aber viel zu streng. Kopfschüttelnd schloss Martin den Kühlschrank. Selbst wenn er kein Snob oder Gastronom gewesen wäre – Ordnung musste sein!
Er schnappte sich seine Jacke – gegen Abend hatte sich der Himmel über Moskau bedeckt, versprach entweder Regen oder durchdringende Herbstfeuchte – und stürzte aus dem Haus. Er rannte zur Ecke, an der ein kleiner gläserner Kiosk Obst
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