Spektrum
zeichnete jemand die Buchstaben ab, kopiere sie, schreibe sie aber nicht frei.
Laut Stempel war der Brief gestern Morgen abgeschickt worden, vom Hauptpostamt aus. Man durfte der Moskauer Hauptpost zu ihrer Effizienz gratulieren, die der Hauptstadt einer Großmacht würdig gewesen wäre.
»Was hast du nun schon wieder ausgeheckt …«, brummte Martin. Danach öffnete er den Brief.
Nun kam ihm die Handschrift schon vertrauter vor.
Martin!
Vor allem: glaube nichts.
Man wird dir sagen, es sei deine Schuld. Man wird dir sagen, ich sei eine Abenteurerin.
Glaube ihnen nicht!
Nichts ist so gekommen, wie ich es wollte. Alles lief aus dem Ruder, seit dem Moment, als wir sieben wurden. Zu spät habe ich begriffen, was vor sich ging. Ich habe mich dumm verhalten, kindisch, ich habe dir misstraut und auf Arank beinahe eine Tragödie angerichtet.
Aber noch lässt sich all das wieder ins Lot bringen. Es ist nie zu spät, die Welt zu retten.
Martin, ich brauche deine Hilfe. Wir riskieren viel, aber jetzt können wir nicht mehr zurück. Ich brauche wenigstens einen Menschen an meiner Seite. Ich brauche einen ruhigen Blick von außen. Ich glaube, du bist ein sehr ruhiger und gefasster Mensch …
Martin nahm einen Schluck Kognak und konnte sich gerade noch beherrschen, das Glas nicht an die Wand zu werfen.
Konzentriert betrachtete er das Blatt Papier. Im Grunde handelte es sich gar nicht um Papier. Das Material war vergleichbar, fein, weiß, beschreibbar – aber eben kein Papier.
Martin, du weißt selbst, dass etwas im Argen liegt! Ich habe niemanden sonst, den ich um Hilfe bitten könnte. Mein Vater glaubt mir nicht, für ihn bin ich noch ein kleines Mädchen. Ich könnte Freunde bitten, aber sie sind noch halbe Kinder und würden mir keine Hilfe sein …
Martin kicherte leise in sich hinein. Die weibliche Unlogik begeisterte ihn stets aufs Neue, und wirklich edle Perlen fand man selten.
Ich weiß nicht, wie ich dich überzeugen kann. Ich kann dem Papier nicht das anvertrauen, was ich in Erfahrung gebracht habe …
»Dem Papier nicht das anvertrauen …« Martin ließ sich die Worte auf der Zunge zergehen und überflog die nächsten Zeilen.
Offensichtlich hast du meine Anspielung verstanden, denn du hast dich daran erinnert, dass der Linguist Homer Heifetz der erste Mensch war, der Fakiu besucht und Kontakt zu den Dio-Daos aufgenommen hat. Komm nun bitte in die Welt, in der ich dich erwarte. Du wirst wissen, wohin. Diesen Brief werde ich jemandem auf die Erde mitgeben. Beeile dich bitte! Irina.
Nie zuvor hatte sich Martin derart wie ein kompletter Idiot gefühlt.
»Homer Heifetz«, sagte er. Kichernd schenkte er sich einen weiteren Kognak ein.
Irina hatte ihn überschätzt. Purer Zufall hatte ihn auf den Planeten verschlagen, den Russen und Engländer anders nannten. Aber ein Wunder wiederholt sich nicht – ebendeshalb war es ein Wunder.
Martin streckte die Beine aus, legte sie auf den Couchtisch und starrte auf den Fernseher. Gerade lief Stolz, eine populäre Show, aus der der arroganteste und gewissenloseste Teilnehmer als Sieger hervorging. Das Spiel hatte gerade angefangen, von den drei Pärchen, die sich mit Beleidigungen überschütteten, war noch keins ausgeschieden. Es verlor derjenige, der sich als Erster zu einem zensurwürdigen Schimpfwort oder einer Handgreiflichkeit hinreißen ließ – was dann als Highlight der Show galt.
»Wunder gibt es nicht«, sprach Martin seine Gedanken laut aus.
Aber im Grunde gab es auch derart unglaubliche Zufälle nicht!
Abermals hatte Irinas Brief einen doppelten Boden, ganz wie das bei der Nachricht an ihren Vater der Fall gewesen war.
Martin wollte sich nicht erheben. Deshalb griff er nach dem Handy, wählte sich übers Internet ein und rief die Suchmaschine Jandex auf. Er gab »Homer Heifetz« ein und studierte die ersten Links.
In der Tat, ein Linguist mit diesem Namen existierte. Er hatte die Welt der Dio-Daos besucht – wie auch immer diese genannt werden mochte. Nur nicht als Erster. Seinen Ruhm verdankte er einem anderen Schritt: Er war der Erste, der es gewagt hatte, einen Planeten der Roten Liste zu besuchen, also einen Planeten, auf dem Bedingungen herrschten, unter denen ein Mensch nicht überleben kann. Genauer gesagt war er der Erste, der von einem solchen Planeten zurückgekehrt und dem es noch dazu gelungen war, mit den Bewohnern in Kontakt zu treten.
Der Planet hieß Bessar, seine Bewohner schlicht Bessarianer.
Weitere Kostenlose Bücher