Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spektrum

Spektrum

Titel: Spektrum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
Vom Netzwerk:
»auf ein Minütchen mitzukommen«. Sollten die beiden Herren vom Außendienst tatsächlich Alarm schlagen, würde der schwerfällige Mechanismus der Staatssicherheit es nicht mehr schaffen, sich rechtzeitig in Bewegung zu setzen.
    Nachdem er ungehindert das umzäunte Gelände betreten hatte, begab sich Martin in die Station.
     
    So bescheiden, wie das Zimmer wirkte, hätte die Moskauer Station auch Nikita Sergejewitsch Chruschtschow persönlich entworfen haben können. Der Raum maß zehn, zwölf Quadratmeter und war mit einem beigefarbenen Veloursofa ausgestattet, auf dem sich halb liegend ein Schließer lümmelte. Für Besucher gab es einen Tisch und einen Sessel. Auf dem Tisch standen einige Flaschen Bier, Salzgebäck und ein Aschenbecher.
    Der Schließer wartete höflich. Bei ihm handelte es sich um ein dickes, sehr pelziges Wesen mit leichten Schlitzaugen. Solche wie ihn traf man selten.
    Dennoch vermeinte Martin, mit einem alten Bekannten zu sprechen.
    »Ich möchte vom Vertrauen erzählen«, fing Martin an. »Nicht von dem Gefühl, das Menschen zwingt, einem anderen die eigene Seele zu offenbaren und damit ihr Leben zu riskieren … jemandem vorbehaltlos zu vertrauen oder mit anderen an nur einem Seil einen Berg zu erkraxeln … Sondern über das ganz normale Vertrauen, das man uns in Kinderjahren lehrt. ›Glaubst du’s oder glaubst du’s nicht?‹, fragen die Kinder einander im Spiel. Man weiß nicht, was sie dabei in größerem Maße lernen: zu glauben oder zu lügen. Vermutlich doch zu lügen. In der Kindheit hast du zumindest deine Eltern, denen du immer und unbedingt vertraust. Du streitest dich mit ihnen, überwirfst dich mit ihnen – aber du glaubst ihnen. Freilich brauchst du nur ein wenig älter zu werden, da verlierst du dieses Vertrauen. Gewiss, manch einer schafft es, sich das Vertrauen sein Leben lang zu bewahren. Ein anderer setzt an die Stelle des Vertrauens die geliebte Frau oder die Ideale, Gott oder die Markennamen auf den Etiketten … Trotz allem steht ein Mensch in seinem Leben immer vor der Wahl: ›Glaubst du’s oder glaubst du’s nicht?‹ Ich kenne die Antwort, glaubst du’s? Ich weiß, dass sie dich nicht liebt, glaubst du’s? Ich kenne den richtigen Weg, glaubst du’s? Ich weiß, dass diese Sache absolut ungefährlich ist, glaubst du’s? Ich weiß, dass wir einen gewaltigen Spaß haben werden, glaubst du’s? Jedem Menschen, den wir kennen, geben wir gewissermaßen Vertrauensnoten. Dem einen mittelmäßige, aber dafür in fast allen Bereichen. Dem anderen hohe, aber nur in Tensorrechnung oder Geschichte der italienischen Oper. Anders geht es nun mal nicht. Kein Mensch verfügt über die absolute Wahrheit. Wir versuchen, uns maßvoll zu vertrauen. Damit uns ungerechtfertigtes Vertrauen keinen allzu großen Schaden zufügt. Die gesamte Geschichte der Menschheit ist im Grunde eine Abnahme der Notwendigkeit zu vertrauen. Wir haben das persönliche Vertrauen durch allgemeingültige Gesetze und Bräuche ersetzt. Wir haben Staaten aufgebaut, denen wir – wenn auch nicht in allen Einzelheiten, so doch im Großen und Ganzen – vertrauen. Wir trachten danach, unserem Leben Vorschriften und Regeln zu geben. Für jedes Ereignis muss ein ausgearbeitetes Verhaltensmuster bereit stehen. Nur damit man nicht auf das Vertrauen zurückgreifen muss … denn zu oft hat es uns schon getäuscht. Zu oft haben diejenigen, die von allen anderen Vertrauen einfordern, jeden Einzelnen von ihnen verraten. Wir spielen Demokratie und spendieren uns freie Wahlen, weil wir befürchten, ein einziger Herrscher würde unverzüglich das ganze Land betrügen. Wir unterschreiben Eheverträge, teilen unseren Plunder und unsere Kinder vor Gericht, denn letztendlich hüten wir uns davor, selbst den uns nahestehenden Menschen vorbehaltlos zu vertrauen. Wir nehmen unseren Freunden Unterschriften ab, wenn wir ihnen Geld borgen. Wir unterschreiben Papier um Papier, sobald wir ein Geschäft abschließen. Wir züchten eine spezielle Art von Menschen, die nichts und niemandem mehr vertraut. Wir feien uns gegen die Notwendigkeit, vertrauen zu müssen. Das überlassen wir den Kindern. Das lassen wir in der Vergangenheit zurück, als die Menschen noch an Gott glaubten, das Volk an den Zaren, die Frau an den Mann, der Freund dem Freunde …«
    »Und Gott Adam, der Abel dem Kain, Samson Delila, Thomas Jesus …«, mischte sich der Schließer ein. »Das Misstrauen liegt in der Natur des Menschen, Martin. Ein goldenes

Weitere Kostenlose Bücher