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Spektrum

Spektrum

Titel: Spektrum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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Mund erblickte Martin voller Entsetzen das spitze Ende des Dorns, der ihr die Zunge durchbohrt hatte. Er kniete sich hin und berührte Irinas Stirn in dem ungeschickten Versuch, ihre Todesangst zu lindern.
    Doch in ihren Augen stand keine Angst geschrieben, nur Ärger und aufsteigender Schlaf – jener letzte, jener tiefste Schlaf.
    »Geht weg!«, schrie jemand in Martins Nähe, um die gaffenden Kinder zu vertreiben. Unterdessen versuchte Irina, ihm irgendetwas zu sagen … Natürlich missglückte ihr das. In ihr schmerzentstelltes Gesicht schlich sich ein schrankenloser, grausamer Trotz. Martin spürte eine leichte Berührung ihrer Hand, worauf er auf die Finger der jungen Frau hinunterblickte. Langsam und entschlossen formte sie Buchstabe um Buchstabe.
    Sie brachte sechs Buchstaben und eine Zahl zustande, bevor die Hände ihr den Gehorsam verweigerten und ihr Atem stockte.
    Martin presste das Ohr an ihre Brust und versuchte, den Herzschlag zu erlauschen. Irinas Körper fühlte sich warm und elastisch an, ein junger, gesunder und schöner Körper – und das dünkte ihn so grausam und ungerecht, dass er zurückfuhr, als habe er sich verbrüht.
    Irina Poluschkina, siebzehn Jahre, der künftige Stolz der irdischen Linguistik, war tot.
    Nun trat Klim heran, blieb stehen und betrachtete Irina. »Der Kchannan hat mit dem zugespitzten Rückgrat eines Fischs nach ihr geworfen. Das ist ein sehr harter Knochen, wir benutzen ihn selbst als Werkzeug …«
    »Hätte er diesen Wurfspieß allein herstellen können?«, fragte Martin, der noch immer neben der toten Frau kniete.
    »Ohne weiteres. Ein Kchannan besitzt äußerst geschickte Flossen, deren Ende in rudimentäre Finger auslaufen. Er wird den Fisch gefressen und die Gräte an einem Stein geschliffen haben. In Jahrtausenden wird es eine intelligente Rasse sein … vermutlich.«
    »Weshalb?« Martin sah Klim an. Dann bezog er die finstere schweigende Menge in seinen Blick ein. »Fallen diese Tiere Menschen an?«
    »Dergleichen ist noch nie vorgekommen«, meinte Klim kopfschüttelnd. »Niemals. Aber einige Kchannan sind verschwunden, vermisst oder entflohen … sie könnten verwildert sein …«
    »Und würden dann eine junge Frau angreifen, die inmitten einer Menge steht?« Martin hätte laut losgelacht, wenn die Umstände nicht so tragisch gewesen wären. »Klim, er hat sich wie ein Killer aufgeführt … oder wie ein Hund, den man auf sie gehetzt hat … das spielt keine Rolle. Jemand hat ihn auf sie angesetzt!«
    Klim breitete die Arme aus. »Soll man uns ruhig Faschisten schimpfen«, murmelte er, »aber von heute an werden wir jeden Kchannan töten, der sich dem Dorf nähert …«
    Martin erhob sich. Um das Mädchen tat es ihm unsagbar leid. Ein derart grauenvolles Fiasko hatte er bislang noch nicht hinnehmen müssen.
    »Wir werden ihren Körper bestatten«, versicherte Klim. »Dafür haben wir einen speziellen Kanal … anders geht es hier nicht, Martin …«
    Martin nickte.
    »Normalerweise teilen wir die Kleidung und den Besitz eines Toten unter uns auf«, fuhr Klim nach kurzem Gedruckse fort. »Letzten Endes reichen die Rohstoffe eben doch nicht. Aber wenn du sie mitnehmen möchtest …«
    »Ich werde mir ihre Sachen ansehen«, sagte Martin. »Etwas werde ich für die Eltern mitnehmen, den Rest …« Er schielte auf die nackten Füßen der unruhig neben ihm stehenden Indianerin. »Ich verstehe das«, meinte er. »Verfahrt so, wie es bei euch Brauch ist.«
    Mitanzusehen, wie die Menschen, obgleich sie den Tod Irinas aufrichtig bedauerten, sie auszogen, widerstrebte Martin. Noch größeren Ekel flößte ihm indes der Gedanke ein, dass dieser prachtvolle Körper, der noch eine Viertelstunde zuvor unbestreitbar eindeutige Gefühle bei jedem Mann hervorgerufen hatte, schamlos nackt zur Schau gestellt werden sollte. Seine Wange erinnerte sich noch an den warmen jungfräulichen Busen, an jene schockierende Wärme eines toten Körpers.
    Martin trat zur Seite, doch er hielt es nicht aus – er wandte sich ab.
    Die Männer waren, Gott sei Dank, von Irina weggegangen. Nur die Frauen drängten sich jetzt in einem engen Kreis um sie. Sie machten nicht viel Federlesens. In den Händen einer Frau tauchten khakifarbene Shorts auf, weiße Unterhosen, eine andere Frau schlängelte sich mit dem blutgetränkten T-Shirt aus der Menge und machte sich umgehend daran, es im Kanalwasser auszuwaschen.
    Der abgedroschene Gedanke, diesen Handlungen hafte etwas Kannibalisches an, loderte in

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