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Angaben der Uno 108 Dorfbewohner, davon 49 Kinder und 34 Frauen, ermordet wurden, die meisten von ihnen mit Äxten, Messern und Schusswaffen, entsetzte Ende Mai die Weltöffentlichkeit. Immerhin war es den Uno-Beobachtern gelungen, an den Schauplatz einer solchen Bluttat vorzudringen, die Leichen zu sehen und so von unabhängiger Seite das Geschehene bestätigen zu können. Die Uno und zwölf Staaten, darunter Deutschland, wiesen die syrischen Botschafter aus. Am 1. Juni verurteilte der Uno-Menschenrechtsrat gegen die Stimmen Russlands und Chinas die syrische Regierung sowie ihre Schabiha-Milizen für das Massaker. Die Regierung in Damaskus dagegen machte "Terroristen" für die Tat verantwortlich und beklagte einen "Tsunami der Lügen".
Doch dann veränderte sich das Meinungsbild: Je mehr Zeit verging, desto stärker stellten die Vereinten Nationen ihren anfangs eindeutigen Befund in Frage. Am 27. Juni diskutierte der Menschenrechtsrat einen Bericht seiner Syrien-Kommission. Dieser stellte fest, anhand der unzulänglichen Beweislage sei nicht nachweisbar, wer das Massaker begangen habe.
Am 8. und am 14. Juni hatte die "Frankfurter Allgemeine" zwei auf Aussagen anonymer Augenzeugen beruhende Berichte veröffentlicht, wonach in Wirklichkeit Bewaffnete der Opposition das Massaker verübt und anschließend dem Regime untergeschoben hätten. 700 Kämpfer der Freien Syrischen Armee, FSA, seien aus verschiedenen Orten nach Hula gekommen, um dort zum alawitischen oder schiitischen Glauben konvertierte Familien umzubringen, die sich nicht dem Aufstand angeschlossen hätten. Anfang Juli setzte der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete Jürgen Todenhöfer nach und beklagte das "Massaker-Marketing" der Aufständischen.
Seit der für den britischen Fernsehsender Channel 4 berichtende Reporter Alex Thompson am 26. Mai mit den Uno-Beobachtern für ein paar Stunden nach Hula kam, war kein ausländischer Journalist mehr dort, um selbst mit Überlebenden der Familien und mit Augenzeugen des Angriffs sprechen und vor Ort recherchieren zu können.
Einem SPIEGEL-Team ist es nun gelungen, den Ort des Massakers zu besuchen: Taldu, das größte von vier weit auseinanderliegenden Dörfern, welche die Gemeinde Hula bilden. Es war eine komplizierte Anreise, denn das syrische Regime möchte keine unabhängig recherchierenden Journalisten im Land haben, schon gar nicht in Hula.
Überdies liegt ein Ring aus alawitischen Dörfern um den Ort. Dort hat die syrische Armee Stützpunkte errichtet, von denen aus sie Hula fortgesetzt mit Panzern und Artillerie beschießt. In diesen Dörfern werden die regimetreuen Schabiha-Milizen bewaffnet, die nun Checkpoints an den Straßen errichten und sich an Überfällen beteiligen.
Taldu selbst, wo vor der Revolution mehr als 15 000 Menschen lebten, wird von seinen eigenen Bewohnern kontrolliert. Sie haben eine Einheit der FSA gebildet – was sie vor kleineren Überfällen schützt, aber nicht vor Granatenbeschuss. Teile des Ortes, darunter ein Schauplatz des Massakers, liegen weiterhin unzugänglich im Schussfeld von Scharfschützen der Armee, die auf einem Hügelkamm am Ortsrand stationiert sind.
Zwei Tage lang hielt sich das SPIEGEL-Team in Taldu auf, konnte sich dort frei bewegen, Überlebende der Familien Sajjid und Abd al-Rassak befragen und mit Zeugen sprechen. Manche der Zeugen sprachen vor der Kamera, andere wollten anonym bleiben, weil sie noch Verwandte im Gefängnis oder in Städten haben, die vom Regime kontrolliert werden. Um zu verhindern, dass die kollektive Erinnerung das selbst Erlebte überlagert, wurden die Zeugen einzeln nach dem befragt, was sie gesehen und gehört haben.
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Als sich die Einwohner von Taldu nach dem Freitagsgebet am 25. Mai wie üblich zu Protestzügen gegen das Regime formierten, setzte am frühen Nachmittag heftiger Granatenbeschuss aus verschiedenen Stützpunkten der Armee ein. Es kam zu Gegenangriffen von Einheiten der FSA auf mehrere Checkpoints der Armee. In Taldu, berichten mehrere Zeugen, hielten sich an jenem Nachmittag aber kaum FSA-Kämpfer auf, weshalb es auch keinerlei Widerstand gegen die einrückenden Todesschwadronen gab. Es war noch heller Tag, als die erste Welle kam.
Zeuge I
Mohammed Faur Abd al-Rassak war am frühen Nachmittag des 25. Mai auf dem Weg nach Hause in die Sadd-Straße, von der die Gasse mit den Häusern der Ermordeten abgeht. Er hatte Gerüchte gehört, dass Schabiha-Gruppen aus mehreren Ortschaften der Umgebung, darunter
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