SPIEGEL E-Book: Best of SPIEGEL:Ausgezeichnete SPIEGEL-Autorinnen und Autoren des Jahres 2012 (German Edition)
Meter neben dem Haus versteckt, weil er fürchtete, als Regimegegner festgenommen zu werden.
Nach der ersten Welle des Massakers am Spätnachmittag gab es zwischen ungefähr 23 Uhr und 4 Uhr morgens eine zweite Welle in einem anderen Teil von Taldu. Da es nun dunkel war, sah von den Überlebenden dort niemand, woher genau die Täter kamen. Aber da die Häuser zwischen zwei Checkpoints der Armee lagen, wäre es für Regimegegner kaum möglich gewesen, dort unbehelligt von Haus zu Haus zu ziehen und Bewohner zu erschießen, ohne in Zusammenstöße mit den Soldaten zu geraten.
Zeuge IV
Der elfjährige Ali Adil al-Sajjid war spätabends noch wach, weil seit Stunden die Einschläge von Granaten in der Nähe zu hören waren: "Gegen 23 Uhr waren von draußen Stimmen zu hören: 'Licht aus! Tür auf!' Aber es gab ja sowieso keinen Strom. Ich hörte, wie von unten gegen die Tür geschlagen wurde, aber dann gingen sie wieder.
Kurz vor vier Uhr wurde ich wieder wach, als Männer ins Haus kamen. Ich und meine Brüder lagen im Wohnzimmer. Als meine Schwester Rascha weglaufen wollte, erschoss sie einer der Männer. Mein Bruder Adil schlief noch, als ein Mann auf ihn schoss. Hinterher fehlte ein Stück von Adils Kopf. Der Mann schoss auch auf mich, aber mich hat er nicht getroffen. Ich rollte mich auf die Seite und stellte mich tot. Dann haben die Männer zwei Fernseher, unsere Waschmaschine und den Computer mitgenommen. Von draußen war das Geräusch eines BMB zu hören" – eines gepanzerten Truppentransporters, den die syrische Armee einsetzt.
Alis schwerverletzter Bruder Nadir "machte noch Geräusche, als ob er Schluckauf hätte. Dann ist er gestorben".
Ali Adil al-Sajjid, der einzige Überlebende seiner Familie, ist entfernt verwandt mit dem syrischen Parlamentsabgeordneten Abd al-Muti Maschlab. Auf diesen Umstand stützten die Beobachter der Vereinten Nationen die Annahme, es seien Menschen wegen ihrer Verwandtschaft mit einem Regimefunktionär umgebracht worden. Doch Maschlab, sagt Ali, sei nur der Onkel der Frau seines Onkels. Ali und sein Vater seien bis zum Herbst häufig zu den Demonstrationen gegangen, "da haben wir vorher Kebab und Cola gekauft!" Aber im November sei sein Vater verhaftet worden, "danach hatte er zu viel Angst".
Zeuge V
Ein paar Häuser weiter lebte die Familie des pensionierten Polizeioffiziers Muawija al-Sajjid. Dessen Tochter Marjam al-Sajjid, 15, stand im Haus am Fenster, "als zum ersten Mal gegen 16.30 Uhr eine Gruppe Soldaten vom Wasserwerk näherkam. Sie schossen in die Luft, schlugen gegen unsere Tür, aber als niemand reagierte, zogen sie weiter. Wir fühlten uns sicher. Mein Vater war 30 Jahre lang im Polizeidienst gewesen, zuletzt als Oberst. Bei Razzien zuvor war uns nie etwas geschehen.
Auch mein Bruder Ahmed war im Haus, er war Soldat, hatte einen Beinbruch und konnte sich nicht bewegen. Vier Monate lang hatte er keinen Urlaub bekommen, weil er aus Hula kam und schon deshalb als verdächtig galt.
Nur jetzt, wegen seines Beinbruchs, hatte er nach Hause gedurft. Aber vor der Armee hatten wir keine Angst. Und wenn es Terroristen wären, wie sollten die hierherkommen durch die beiden Checkpoints? Wovor wir Angst hatten, waren die Granaten, die in der Nähe stundenlang herunterkamen. Es war ja noch hell, und unser Haus ist das letzte an der Straße, wir wagten nicht zu fliehen.
Gegen 18 Uhr hörten wir einen Panzer auf der Straße und Männer auf einem Auto, die skandierten: 'Schabiha für immer! Mit unserem Blut und unserer Seele opfern wir uns für dich, oh Baschar!' Das hatten wir vorher noch nie gehört.
Wir waren im Haus, mein Vater im Raum zur Straße, alle anderen im Raum nach hinten raus. Um 23 Uhr waren Stimmen durch Lautsprecher zu hören: 'Alle Lichter aus! Auch Kerzen!' Ich ging zu meinem Vater in den anderen Raum. Er hatte gerade gehört, wie Männer unten vor der Tür standen und sagten, erst würden sie sich die Frauen nehmen, dann alle töten. Ich fragte ihn, was wir tun sollten. Er sagte: 'Geht! Ich werde hinausgehen und versuchen, sie aufzuhalten.'
Wir waren 15, Ahmed konnten wir nicht mitnehmen, er war zu krank. Aber in der Angst und in der Eile vergaßen wir Sarah, meine achtjährige Schwester. Sie schlief. Als ich das merkte, ging ich zurück mit meiner Schwägerin zum Haus. Wir hörten die Männer: 'Wir wollen die Frauen!' Meine Schwägerin sagte: 'Wir können nichts mehr tun. Sie werden sterben.' Sie zog mich zurück, und wir flohen."
Zeuge VI
Marjam
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