SPIEGEL E-Book: Best of SPIEGEL:Ausgezeichnete SPIEGEL-Autorinnen und Autoren des Jahres 2012 (German Edition)
Nachtsichtgerät. Häufig ist der erfahrenere Scharfschütze der Beobachter. "Der Schütze schießt, der Beobachter trifft", das ist ein Satz, den die Scharfschützen gern zitieren. Sommerkorn beschreibt Schießen wie die Arbeit eines Feinmechanikers. Wer dieses Handwerk lernen will, brauche Geduld und eine gute Auffassungsgabe.
Vor einem Schuss atmet Sommerkorn dreimal tief, er berührt den Abzug mit dem ersten Fingerglied des Zeigefingers, sucht den Druckpunkt, atmet ein Drittel der Luft aus und summt leise, damit der Beobachter neben ihm weiß, was kommt.
Trifft das Projektil einen Menschen, dringt es in den Körper ein und formt ein kleines Loch. Im Körper überschlägt sich das Projektil und reißt Knochen und Gewebe mit. Sommerkorn sagt, die Austrittsstelle könne so groß sein wie ein Spiegelei. Sommerkorn hat mit dem G22 mal auf ein Reh geschossen, nach dem Treffer sah es zur Hälfte aus wie Ragout, sagt er.
Beim Abschuss fliegt das Projektil mit einer Geschwindigkeit von 910 Metern pro Sekunde, fast dreimal so schnell wie der Schall. Ein Mensch, der ins Fadenkreuz eines G22 gerät, ist tot, bevor er den Schuss hören kann.
Sommerkorn sagt, Schmauch sei schon ein geiler Geruch. Ein schönes Gefühl sei das, mal ein Gerät in der Hand zu halten, von dem man die Wirkung sieht.
Sommerkorn kennt die Wirkung, aber er sucht einen Sinn. Jeder Mensch braucht einen Sinn, und je schwerer die Aufgabe wird, umso genauer muss der Mensch diesen Sinn kennen. Amerikanische Soldaten haben ihre Flagge. Christian Sommerkorn hat nur sein Handwerk und seinen Auftrag. Er arbeitet als Scharfschütze mit demselben Anspruch, den er hatte, als er noch Zimmermann war. Die Bundeswehr hat ihn ausgebildet zu töten, und nun wartet Sommerkorn aufs Töten. Aber der Auftrag allein gibt diesem Töten keinen Sinn. Auf die Frage, warum er auf einen Menschen schießen will, findet Sommerkorn nur die Antwort, dass er tun will, was er gelernt hat. Und eigentlich will er ja nicht auf Menschen schießen. Sommerkorn weiß, dass er in einem Widerspruch lebt. Man kann es nicht erklären. Es ist absurd. Es ist Krieg.
Sommerkorn und Andy beobachten seit zwei Stunden, bisher haben sie keinen Menschen gesehen, nur eine Ratte.
Es gibt einsame Momente in Afghanistan. Sommerkorn denkt in solchen Momenten manchmal an Jessika und Amy und an seine zehnjährige Tochter Felina, die bei seiner Jugendliebe lebt.
Am 28. Juli dieses Jahres saßen Jessika, Amy und Christian im Auto auf dem Parkplatz der Kaserne in Donaueschingen. Christian wollte es kurz machen, so erzählt er. Er küsste seine Frau, beugte sich über seine Tochter, die im Kindersitz saß, und sagte, dass er fort müsse und dass er sie liebe. Amy schaute ihren Vater an, streckte ihre Arme aus und lachte.
Sommerkorn fragt sich, wie das wohl wäre für seine Mädchen, wenn sie in der Schule sagen müssten, mein Vater ist in Afghanistan gestorben.
Seit Stunden liegen Sommerkorn und Andy auf dem Grabhügel, sie haben geschwiegen, nun sagt Sommerkorn: "Ich glaube, die Deutschen wissen nichts von der Belastung, die wir tragen."
Vor seinem Einsatz haben Fremde Sommerkorn hinterhergeschrien: Soldaten sind Mörder. Der Kommandant seines Panzers wurde angespuckt, erzählt er, als er im Feldanzug nach Tübingen fuhr, um seine Mutter von der Arbeit abzuholen.
Viele Deutsche machen die Soldaten verantwortlich für diesen Krieg, den sie für falsch halten. Ihnen ist egal, ob die Soldaten den Krieg auch nicht wollen.
Auf dem Hügel sagt Andy: "Was ist ein Esel mit einer roten Taschenlampe auf dem Kopf?" Sommerkorn schweigt. Andy sagt: "Der afghanische Knight Rider."
Die Soldaten, die vor Sommerkorn in Baghlan dienten, kämpften mit ähnlichen Problemen wie er. Am Ende ihres Einsatzes, so erzählen Sommerkorns Kameraden, schossen die Soldaten in die Luft. Sie nannten sich "The Lost Battalion".
Diese Männer sind daheim, aber ihr Name verfolgt die Soldaten in Baghlan wie ein Fluch. Sommerkorn dient im verlorenen Bataillon.
Als er drei Tage später in den Observation Post North fährt, ist noch immer kein Schuss gefallen, es ist der 62. Tag in Sommerkorns Krieg, aber die Männer haben gute Laune, weil sie Fladenbrot beim Afghanen gekauft haben. Sie wollen Zwiebeln anbraten und mit einem Beamer den Film "Der letzte Lude" gucken.
Sommerkorn stürzt aus seinem Zelt, seine Augen sind aufgerissen. "Habt ihr das gehört?", ruft er, er brüllt fast. "Ich habe gerade über Funk was von drei RPGs gehört."
Weitere Kostenlose Bücher