SPIEGEL E-Book: Best of SPIEGEL:Ausgezeichnete SPIEGEL-Autorinnen und Autoren des Jahres 2012 (German Edition)
al-Sajjids Mutter Hana Harmut war noch einen Moment länger im Haus geblieben und sah nicht, wohin die anderen gelaufen waren in der Dunkelheit: "Ich ging zurück zur Rückseite des Hauses, hörte die Stimmen der Männer im Haus, hörte Ahmed schreien, und dann hörte ich Sarah, wie sie aufwachte, weinte und laut 'Mama' rief. Ich hörte noch meinen Mann rufen: 'Ahmed nicht! Ahmed nicht!' Dann einige Schüsse, ich weiß nicht, wie viele. Danach war es kurz still. Und dann waren Geräusche zu hören, als ob die Küche verwüstet würde. Vielleicht suchten sie Messer.
Ich dachte nur noch daran zu fliehen und versteckte mich in einem Stall in der Nachbarschaft, wo sonst die Tiere sind. Noch bis gegen zwei, drei Uhr früh waren die Männer zu hören, dann wurde es ruhiger."
Die Familie Sajjid war weder in der Opposition führend aktiv, noch unterstützte sie das Regime. Einer der Gründe, so glauben die Überlebenden, der sie zum Ziel gemacht haben könnte, sei der Vorname des Vaters: Muawija. So hieß jener Kalif, der vor über 1300 Jahren gegen jene Imame kämpfte, die als Heilige der Schiiten gelten und deren Tod heute noch rituell betrauert wird. Ein absolutes Reizwort für radikale Schiiten und, abgeschwächt, auch für Alawiten, die zur selben Glaubensgruppe zählen. Und garantiert nicht der Name eines Mannes, der zum schiitischen Islam konvertiert ist.
Nach übereinstimmenden Aussagen der Überlebenden, aller Dorfbewohner aus Taldu und anderen Teilen Hulas, gibt und gab es keine schiitischen oder alawitischen Familien in Hula – ebenso wenig, wie es sunnitische Familien in den umliegenden alawitischen Dörfern gibt. Zwar habe es früher gelegentlich Heiraten zwischen alawitischen und sunnitischen Familien gegeben, aber in diesen Fällen sei stets die Frau ins Dorf des Mannes gezogen und habe dessen Glauben angenommen.
Woher aber mögen die namentlich nicht genannten Zeugen gekommen sein, die mit der Aussage zitiert wurden, dass die Opfer von Hula gar keine Sunniten und Oppositionelle gewesen seien, sondern eher Anhänger des Regimes?
Zeuge VII
Oberst Mohammed Tajjib Bakkur, der zwei Drittel seines Lebens in der syrischen Armee gedient hat und vor wenigen Wochen desertierte, war zuletzt in der politischen Abteilung des Verteidigungsministeriums eingesetzt. Am 28. Mai, berichtet er jetzt, habe er einen Anruf von Dschamil Hassan erhalten, dem Chef des Luftwaffengeheimdienstes, einem der führenden Männer des Regimes: "Er bestellte mich für den 2. Juni ein und meinte, ich käme doch aus Hula. Da sei ja eine internationale Verschwörung gegen Syrien im Gang. Deswegen solle ich in Hula oder Umgebung ein paar möglichst arme Menschen finden. Ich solle sie nach Damaskus bringen, damit sie die Regimeversion des Massakers verbreiten. Die Leute aus Hula bekämen auch Geld dafür, ich ebenso. Dann rief er seinen Büroleiter, dass der mir 25 000 Syrische Pfund aushändigen solle." Umgerechnet gut 300 Euro.
Nach 35 Jahren in der Armee sei das für ihn der Moment gewesen, die Seiten zu wechseln: "Ich wollte das nicht mehr mittragen, habe meine Familie in Sicherheit gebracht und bin geflohen."
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So weit die Zeugen aus Taldu.
Wäre es wirklich ein von Rebellen angerichtetes Massaker gewesen – wieso wird Taldu dann seit Monaten fortwährend von der Armee beschossen und bombardiert, so auch noch in den Tagen der Recherche vor Ort? Weshalb sind eine ganze Reihe von Armee-Offizieren aus Hula nach dem Massaker zur FSA übergelaufen, wenn doch die FSA das Massaker verübt haben sollte?
Auf einem Platz im Zentrum von Taldu haben die Bewohner nach dem Massaker gemeinsam die Toten begraben, von denen sie sagen, es seien noch mehr als die 108 von den Uno-Beobachtern gezählten gewesen – was sich nicht mehr überprüfen lässt, aber naheliegt, da viele der Toten erst Tage nach deren Abzug geborgen werden konnten.
Mitte Juli sind nun ein paar mutige Arbeiter damit beschäftigt, neue Erde aufzuschütten, da der Boden sich gesenkt hat. Die bislang verstreut herumliegenden Ziegelsteine wollen sie durch eine Umrandung aus Natursteinen ersetzen. Es solle wenigstens würdig aussehen, sagt einer der Männer. Allzu lange möge man hier allerdings nicht stehen bleiben, warnt er: "Hierhin schießen die Soldaten vom Wasserwerk manchmal Raketen."
Ein paar Ecken weiter, am zerstörten Hauptplatz von Taldu, wo die Armee einen Checkpoint hielt, den sie erst sechs Tage nach dem Massaker aufgab, steht ein Graffito an einer Wand,
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