Spiegelblut
damit er das Zittern nicht sah.
»Du bist wirklich zauberhaft.« Eine Stimme träufelnd wie Nektar. Sie war mir völlig unbekannt. Abgesehen davon konnte ich es langsam nicht mehr hören, wie hinreißend ich angeblich aussah.
»Wenn du mir gehören würdest, würde ich dich auf Händen tragen. Du müsstest auch nicht den Blick vor mir senken, und ich würde dir jedes Mal, wenn ich dein Blut nähme, den Nachtschatten zeigen.«
Aha, die sanfte Tour. Bitte, sollte er sich den Mund fransig reden.
»Du hast ihnen bewiesen, dass du kein Spiegelblut bist. Wusstest du, dass ein Spiegelblut nicht in den Spiegel sehen darf? Weißt du auch, warum nicht?«
Weil es meine Kräfte schwächt, du Langweiler!
Ich hatte wirklich ein wenig mehr Stil oder zumindest Raffinesse erwartet.
»Es schwächt die Kräfte. Wusstest du, dass dem Ersten Gefallenen sein Spiegelbild zum Verhängnis wurde? Alles, was oben existiert, tritt auch hier unten in Erscheinung. Wie im Himmel, so auf Erden. Oder ist es umgekehrt? Da müsstest du die Lichtträger fragen. El Auria, der Flammenengel, dessen Siegel ein Lichtträger des Feuers trägt. Eth, einer der drei Engel der Äonen, Hamied, der weiße Engel der Wunder, Hadurah, der Engel, der über das Wasser wacht …«
Moment, jetzt mal langsam! Bitte zum Mitschreiben! Er schien doch etwas mehr auf dem Kasten zu haben, und ich merkte erst gar nicht, wie er mich mit meiner Neugier lockte. »Die ältesten Spiegel auf der Erde waren Wasseroberflächen, bevor man dann lange vor Christi Geburt Bronzespiegel herstellte.«
Wieso erzählte er mir das?
»Hadurah ist nicht nur der Engel des Wassers, sondern auch der Engel der Reflexion. Wäre sie nicht gewesen«, er seufzte theatralisch, »wäre der Erste nicht gefallen!«
Der Erste, dessen Namen nicht genannt werden darf, oder was? Dann gäbe es auch keine Dämonen, denn diese fielen ja mit Luzifer. Mein Religionslehrer hatte immer diesen Bibelvers zitiert: »Wie bist du gestürzt, Lichtträger, der du am Himmel aufstiegest, du schöner Sohn der Morgenröte …« Früher hatte er das Licht gebracht, heute war er der Erzdämon, der Verführer. Ironischerweise bedeutete Luzifer übersetzt Lichtträger – ich musste Shanny mal nach dem Grund fragen, wieso sich die Lichtträger so nannten wie der Erste Gefallene. Und was meinte er mit Engel der Reflexion?
»Wie ich höre, weihst du Damontez’ Blutmädchen gerade in unsere alten Legenden ein.«
Alles in mir wurde feuerrot vor Angst. Draca!
»Es heißt«, sagte der mir unbekannte Vampir, »Luzifer spiegelte sich im Antlitz von Hadurah. Luzifer erkannte sich und seine gottgewollte Schönheit und die Sünde des Stolzes vergiftete sein Herz. Die Menschen haben sich 1000 Versionen dieser Geschichte ausgedacht. Tatsache bleibt jedoch, dass er sich über Gott stellen wollte und dadurch fiel. Ihm selbst nahm man die Gestalt, so dass er sich nun nur noch in anderen manifestieren kann. Aber was geschah mit Hadurah? Wer übernahm Luzifers Aufgabe, das Schicksalslicht von Gott zu den Engeln zu tragen? Vielleicht interessiert es dich ja? Ich habe eine Menge Antworten. Gegen einen einzigen Blick bekommst du alle.«
»Hast du aufgehört, Spiegelseelen zu jagen, und dich Faylin angeschlossen, Raven?«
Pontus! Gott sei Dank! Und danke für den Namen!
Worte auf Latein nahmen mir jede Möglichkeit, mehr zu erfahren, aber sie waren auch eine Chance! Mozart im Hintergrund war schon relativ laut, dazu noch Pontus und Raven, die ihre Stimmen hoben. Wenn nicht jetzt, wann dann? Wenn ich nur wüsste, wo Draca war. Unauffällig stieß ich meine Nachbarin mit dem Fuß an. Wie erwartet, reagierte sie nicht. Wo war Draca? Ich suchte den Boden nach seinen Schuhen ab. Nichts. Nur ein feiner Gesang hinter uns. Ich erkannte Dracas Stimme sofort. Versuchte er sich jetzt als Minnesänger?
Ich starrte auf meine Fußspitzen. Draca stand hinter der Stuhlreihe und dort auch am äußersten Rand. Seinem guten Gehör würde nicht entgehen, dass ich etwas sagte, aber vielleicht würde er es nicht verstehen.
Natürlich war es ein Risiko. Eigentlich durfte ich überhaupt nicht sprechen, solange männliche Vampire in meiner Nähe waren. Pontus und Raven stritten immer noch.
Ganz leicht streifte ich Leslies Füße mit meinen. »Shanny ist bei Damontez, sie holt dich raus!«, flüsterte ich fast tonlos.
Der Gesang verstummte. Ich hielt die Luft an, zählte. Mozarts Menuett fand seinen Höhepunkt. Pontus unterbrach seinen Satz nicht, selbst wenn
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